Full text: (Sechstes und siebentes Schuljahr) (Teil 3 für Kl. 4 u. 3)

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Ich drückte ihm gerührt die Hand, und er lief an eine andere Tür, 
öffnete sie und rief: „Lore, hier ist lieber Besuch, mein alter Freund aus 
Hannover, du kennst ihn schon!" 
Sie trat ein und hinter ihr wieder die beiden freundlichen Binder 
mit den rosigen Apfelgesichtern. Meines Freundes Warnung war nicht 
umsonst gewesen, und ich weiß nicht, ob ich in der Überraschung des 
Augenblicks mein Befremden hätte verbergen können. Allein in den 
dunkeln Augen dieser Frau schimmerte es von Liebe und Sanftmut, und 
schweres, gewelltes Haar von seltener Fülle umgab das blasse Antlitz, das 
nicht schön, aber von dem Widerschein innerer Güte anmutig durch¬ 
leuchtet war. 
Nach der ersten Begrüßung meinte Hühnchen: „Heute abend bleibst 
du hier, das ist selbstverständlich. Lore, du wirst für eine fürstliche 
Bewirtung sorgen müssen. Tische auf, was das Haus vermag! Das 
Haus vermag freilich gar nichts!" sagte er dann zu mir gewendet. 
„Berliner Wirtschaft kennt keine Vorräte. Aber es ist doch eine wunder¬ 
bare Einrichtung. Die Frau nimmt sich ein Tuch um und ein Körbchen in 
die Hand und läuft quer über die Straße. Dort wohnt ein Mann hinter 
Spiegelscheiben, ein rosiger, behäbiger Mann, der in einer weißen Schürze 
hinter einem Marmortisch steht. Und neben ihm befindet sich eine rosige, 
behäbige Fran und ein rosiges, behäbiges Ladenmädchen, ebenfalls mit 
weißen Schürzen angetan. Meine kleine Frau tritt nun in den Laden, 
und in der Hand trägt sie ein Zaubertäschchen — gewöhnliche Menschen 
nennen es Portemonnaie. Auf den Zauber dieses Täschchens setzen sich 
nun die fleißigen Messer in Bewegung und säbeln von den köstlichen 
Vorräten, die der Marmortisch beherbergt, herab, was das Herz begehrt 
und der Säckel bezahlen kann. Meine kleine Frau läuft wieder über die 
Straße, und nach zehn Minuten ist der Tisch fertig und bedeckt mit allem, 
was man nur verlangen kann — wie durch Zauber!" 
Seine Frau war unterdes lächelnd mit den Kindern hinausgegangen, 
und da Hühnchen bemerkte, daß ich die ärmliche, aber freundliche Ein¬ 
richtung des Zimmers gemustert hatte, so fuhr er fort: „Purpur und 
köstliche Leinwand findest du nicht bei mir, und die Schätze Indiens sind 
mir noch immer fern geblieben; aber das sage ich dir, wer gesund ist —" 
hierbei reckte er seine Arme in der Weise eines Zirkuskraftmenschen — „wer 
gesund ist und eine so herrliche Frau hat wie ich und zwei so prächtige 
Kinder — ich bin stolz darauf, dies sagen zu dürfen — wer alles dies 
besitzt und doch nicht glücklich ist, dem wäre es besser, daß ihm ein Mühl¬
	        
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