9
Ich drückte ihm gerührt die Hand, und er lief an eine andere Tür,
öffnete sie und rief: „Lore, hier ist lieber Besuch, mein alter Freund aus
Hannover, du kennst ihn schon!"
Sie trat ein und hinter ihr wieder die beiden freundlichen Binder
mit den rosigen Apfelgesichtern. Meines Freundes Warnung war nicht
umsonst gewesen, und ich weiß nicht, ob ich in der Überraschung des
Augenblicks mein Befremden hätte verbergen können. Allein in den
dunkeln Augen dieser Frau schimmerte es von Liebe und Sanftmut, und
schweres, gewelltes Haar von seltener Fülle umgab das blasse Antlitz, das
nicht schön, aber von dem Widerschein innerer Güte anmutig durch¬
leuchtet war.
Nach der ersten Begrüßung meinte Hühnchen: „Heute abend bleibst
du hier, das ist selbstverständlich. Lore, du wirst für eine fürstliche
Bewirtung sorgen müssen. Tische auf, was das Haus vermag! Das
Haus vermag freilich gar nichts!" sagte er dann zu mir gewendet.
„Berliner Wirtschaft kennt keine Vorräte. Aber es ist doch eine wunder¬
bare Einrichtung. Die Frau nimmt sich ein Tuch um und ein Körbchen in
die Hand und läuft quer über die Straße. Dort wohnt ein Mann hinter
Spiegelscheiben, ein rosiger, behäbiger Mann, der in einer weißen Schürze
hinter einem Marmortisch steht. Und neben ihm befindet sich eine rosige,
behäbige Fran und ein rosiges, behäbiges Ladenmädchen, ebenfalls mit
weißen Schürzen angetan. Meine kleine Frau tritt nun in den Laden,
und in der Hand trägt sie ein Zaubertäschchen — gewöhnliche Menschen
nennen es Portemonnaie. Auf den Zauber dieses Täschchens setzen sich
nun die fleißigen Messer in Bewegung und säbeln von den köstlichen
Vorräten, die der Marmortisch beherbergt, herab, was das Herz begehrt
und der Säckel bezahlen kann. Meine kleine Frau läuft wieder über die
Straße, und nach zehn Minuten ist der Tisch fertig und bedeckt mit allem,
was man nur verlangen kann — wie durch Zauber!"
Seine Frau war unterdes lächelnd mit den Kindern hinausgegangen,
und da Hühnchen bemerkte, daß ich die ärmliche, aber freundliche Ein¬
richtung des Zimmers gemustert hatte, so fuhr er fort: „Purpur und
köstliche Leinwand findest du nicht bei mir, und die Schätze Indiens sind
mir noch immer fern geblieben; aber das sage ich dir, wer gesund ist —"
hierbei reckte er seine Arme in der Weise eines Zirkuskraftmenschen — „wer
gesund ist und eine so herrliche Frau hat wie ich und zwei so prächtige
Kinder — ich bin stolz darauf, dies sagen zu dürfen — wer alles dies
besitzt und doch nicht glücklich ist, dem wäre es besser, daß ihm ein Mühl¬