Full text: Neuntes Schuljahr (B)

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ein wundes Raubtier durch die kahlen Hecken und Dornen seiner Winter- 
wälder. 
3. Nicht, daß sie untetlegen waren, drückte diesen Männern das Herz 
ab, wenn sie in strenger Winternacht um ihre Feuer saßen. Sonst schauten 
sie nach einer Niederlage bitter oder trotzig zum Himmel auf, wo Wo¬ 
dans bekanntes Eejaid wie ergrimmt im Nordsturm fuhr. „Wodan hat 
es nicht anders bestimmt," sprachen sie schlicht. Und mit derselben hart¬ 
näckigen Ruhe, mit der sie ihr Letztes und Bestes, ja, sich selbst dem 
glücklichen Spieler übergaben, wenn sie im Glücksspiel verloren hatten, 
mit derselben gläubigen Hartnäckigkeit schauten sie in ihre Feuer und be¬ 
rechneten die Wege, die trotz alledem noch zur Rettung führen konnten. 
Auch scharten sie sich wohl aus entlegner Waldlichtung um ihre Opfer¬ 
feuer, die Männer in den rauhen Fellgewanden, die Frauen in ihrem 
stolzen Goldhaar, und mit dem Opferrauch stiegen eine Nacht lang ihre 
Gebete zu den schlafenden Göttern. Gegen Morgen dann, wenn der Wald 
wach wurde, gingen sie mit kräftigem Händedruck und ruhigem „Heil!" 
zu neuer Umschau und Arbeit an ihr Tagewerk. 
4. Nichts mehr von alledem! Ein schlimmerer Feind als der Franke 
hatte in ihre Herzen Eingang gefunden. Die Säule Jrmins hatte Karl 
gestürzt — auch in ihren Herzen! Ihre Heiligtümer waren vernichtet, 
ihre Götter verspottet. Und das Unglaubliche war geschehen: — nicht 
einen Finger hatten die beschimpften und entehrten Germanengötter ge¬ 
rührt! Wann hatte man solche Ehrlosigkeit, solche Feigheit im Nordland 
erlebt?! — Da zog ein großes Irrewerden über dies Land des graden 
Glaubens; ein bisher unbekanntes Unkraut, der Zweifel an den eignen 
Göttern, sproßte nun im Sachsenland in allen Herzen auf, ausgesät 
von den Priestern des Südens. 
5. Lüge war, was sie bis jetzt geliebt. Der Schwur, den der Mann 
dein Manne geschworen bei den Göttern des freien Waldes, der Schwur 
war Lüge. Donar, der im Wetter dahinfuhr; Wodan, der inild-starke 
Mantelgott mit Speer und Sonnenauge; Freya, die Liebliche; die Pro¬ 
phetinnen und weißen Frauen am Waldquell; die Nire der Wasser, die 
Kobolde und Zwerge der Waldklüfte, die Elfen in den Weiden der Nebel¬ 
täler — Lüge! Leer wie eine Winternacht lag die deutsche Welt. Nichts 
mehr, das diese Enttäuschten freute, nichts mehr, für das sie glühen und 
um das sie kämpfen mochten. Denn nicht für seine Scholle bloß kämpft 
ein Volk, für seine Götter kämpft ein Volk. Für seine Weltanschau¬ 
ung, für seine ganze äußere und innere Welt kämpft ein Volk. Nie¬ 
mals hätte des Franken Schwert das Sachsentum zerrüttet, wäre ihm 
nicht der stärkere Bundesgenosse zur Seite gezogen: die Eedankenmacht 
des Christentums. Sie machte das unbeholfne Sachsenvolk an seiner eignen 
Welt irre, kränkelte sie an mit des Zweifels Blässe und entwand ihnen
	        
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