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lud nicht bloß seine Verwandten, Freunde und Bekannten, sondern
auch die weisen Frauen dazu ein, damit sie dem Kinde hold und gewogen
wären. Es waren ihrer dreizehn in seinem Reiche. Weil er aber nur
zwöls goldene Teller hatte, von welchen sie essen sollten, so mußte eine
von ihnen daheim bleiben. Das Fest ward mit aller Pracht geseiert,
und als es zu Ende war, beschenkten die weisen Frauen das Kind mit
ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die andere mit Schönheit, die
dritte mit Reichtum und so
mit allem, was aus der Welt
zu wünschen ist. Als elf ihre
Sprüche eben getan hatten, trat
plötzlich die dreizehnte herein.
Sie wollte sich dafür rächen,
daß sie nicht eingeladen war,
und ohne jemand zu grüßen
oder nur anzusehen, rief sie mit
lauter Stimme: „Die Königs¬
tochter soll sich in ihrem fünf¬
zehnten Jahr an einer Spin¬
del stechen und tot hinfallen."
Und ohne ein Wort weiter
zu sprechen, kehrte sie sich um
und verließ den Saal. Alle
waren erschrocken; da trat die
zwölfte hervor, die ihren
Wunsch noch übrig hatte, und
weil sie den bösen Spruch
nicht ausheben, sondern ihn
nur mildern konnte, so sagte sie: „Es soll aber kein Tod sein, sondern
ein hundertjähriger, tiefer Schlaf, in welchen die Königstochter füllt."
2.
Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück gern bewahren
wollte, ließ den Befehl ausgehen, daß alle Spindeln im ganzen König¬
reich sollten verbrannt werden. An dem Mädchen aber wurden die
Gaben der weisen Frauen sämtlich erfüllt; denn es war so schön,
sittsam, freundlich und verständig, daß es jedermann, der es ansah, lieb¬
haben mußte. Es geschah, daß an dem Tage, an dem es gerade fünf¬
zehn Jahr alt ward, der König und die Königin nicht zu Haus waren
und das Mädchen ganz allein im Schloß zurückblieb. Da ging es aller-