Full text: [Teil 6, [Schülerband]] (Teil 6, [Schülerband])

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und legt sich dann als Wächter zu seinem Freunde. Denn der Löwe 
war kein anderer als der, welchem Androklus einst einen Dorn aus 
dem Fuße gezogen, und mit welchem er so lange in der Wüste zu— 
sammengelebt hatte. Er war gefangen und zu dem großen Feste nach 
Rom geschickt worden, und hier führte ihn der Zufall mit seinem Gast— 
freunde zusammen, um diesem das Leben zu retten. 
Als der Kaiser die außerordentliche Zusammenkunft sah und das 
versammelte Volk vor Neugier brannte, zu erfahren, wie das zugehe, 
ließ er das ganze Schauspiel unterbrechen und befahl, daß Androklus 
vor ihn trete. Dieser erzählte nun unter dem Beifalljauchzen aller 
Anwesenden seine Geschichte, während der Löwe fortfuhr, ihn zu lieb— 
kosen. Der Kaiser war gerührt und begnadigte nicht bloß den Androklus, 
sondern schenkte ihm auch die Freiheit und seinen dankbaren Löwen 
obendrein. Das Volk aber ruhte nicht, Androklus mußte mit dem 
Löwen durch die Straßen der Stadt ziehen, damit jedermann das 
wunderbare Tier sehe. Der Löwe ließ sich auch geduldig von seinem 
Freunde führen, und die Leute riefen aus: „Seht da den Löwen, den 
Gastfreund des Menschen, und den Menschen, den Arzt des Löwen!“ 
Curtman. 
54. Das blinde Roß. 
Auch gegen Tiere soll der Mensch nicht undankbar sein, wie jener 
Kaufmann in der Stadt Wineta, den sein Schimmel wegen Undank 
verklagte — Der Schimmel hatte dem Herrn schon viele Jahre treu 
gedient und ihm einmal sogar durch seine Schnelligkeit das Leben ge— 
rettet, als er in einem Walde von Räubern überfallen wurde. Der 
Kaufmann that deshalb ein Gelübde, er wolle den Schimmel niemals 
verstoßen und ihn aufs beste verpflegen, solange er leben werde. Weil 
aber der Schimmel auf seiner Flucht vor den Räubern sich sehr erhitzt 
hatte, so ward er bald darauf erst steif und lahm und endlich auch 
blind, und der Kaufmann vergaß seiner Dienste, sowie des eigenen Ge— 
lübdes. Erst ließ er das Pferd bei kärglichem Futter darben, und 
weil ihm einige Liter Hafer täglich zu viel schienen für ein Pferd, 
das ihm nichts mehr nützte, so befahl er seinem Knechte, den Schimmel 
wegzujagen. Der nahm einen Stock, weil das Pferd nicht weichen 
wollte, und trieb es aus dem Stalle. Da blieb es sieben Stunden 
am Thore stehen mit niedergebeugtem Kopfe und spitzte die Ohren, 
wenn etwas im Hause sich regte. Die Nacht über schlief es auf den
	        
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