denn mein Glück dir so gar nichts, daß du nicht einmal mit geringen
Bürgern mich gleich setzest?"
Solon aber sprach: „O Krösus, mich, der da weiß, wie neidisch
und voller Wandel die Gottheit ist, mich fragst du um der Menschen
Schicksal? Ich setze des Menschen Alter auf siebenzig Jahre. Diese
siebenzig Jahre machen fünfundzwanzigtausendundzweihundert Tage, und
da rechne ich noch keinen Schaltmond. Soll nun ein Jahr um das
andere noch einen Mond dazu haben, daß die Zeiten gehörig zusammen¬
treffen, so geben die siebenzig Jahre noch fünfunddreißig Schaltmonde,
das macht tausendundfünfzig Tage. Von allen diesen Tagen, die auf
siebenzig Jahr sechsundzwanzigtausendzweihundertundfünfzig Tage be¬
tragen, geht es uns nun an keinem einzigen gerade so, wie an dem
andern. Daher, o Krösus, ist der Mensch eitel Zufall. Du bist, wie
ich sehe, gewaltig reich und Herr über viele Völker; das aber, wonach
du mich fragst, kann ich dich nicht nennen, bevor ich nicht erfahre, daß
du dein Leben glücklich beendet. Denn mit Nichten ist der Reiche glück¬
seliger, als der nur sein tägliches Brot hat, wenn er nicht das Glück
hat, seinen Reichtum zu genießen bis an sein Ende. Viele, die da
gewaltig reich sind, leben nicht glücklich; aber vielen, die nur ihre Not¬
durft besitzen, geht es wohl. Und der überreiche, aber unglückliche Mann
hat nur in zwei Dingen Vorzüge vor dem, welchem es wohl geht, dieser
aber in vielen Dingen vor dem unglücklichen Reichen. Dieser nämlich
kann eher haben, was sein Herz begehrt, und eher ertragen, wenn ein
harter Schlag ihn trifft; jener aber hat das vor ihm voraus, obwohl
er seine Gelüste nicht also stillen und einen Schlag nicht so leicht ertragen
kann, daß sein Wohlergehen ihn davor bewahrt; er ist gesund an seinen
Gliedern, weiß von Krankheit und Leiden nichts, hat Freude an seinen
Kindern und ist wohl gebildet. Kommt hiezu nun, daß er sein Leben
gut beschließt, so kann er glückselig genannt werden in dem Sinne, wie
du meinst. Vor seinem Ende aber muß man sich wohl hüten, daß man
sage, er sei glückselig, sondern nur, es gehe ihm wohl. Es ist aber
unmöglich, daß ein Mensch dieses alles zumal erlange, und so wie ein
Land nicht alles hervorbringt, sondern das eine hat und Mangel leidet
am andern, das aber, welches das meiste hat, das hat den Vorzug;
also ist auch ein Menschenleib sich selbst nicht zur Genüge; das eine
hat er, das andere bedarf er. Wer nun das meiste bis an sein
Ende hat und freudigen Mutes sein Leben beschließt, der, o König,
verdient nach meiner Einsicht den Namen des Glückseligen. Bei jeg¬
lichem Dinge muß man auf das Ende sehen, wie es hinausgeht; denn
vielen hat Gott das Glück vor Augen gehalten und sie dann gänzlich
zu Grunde gerichtet."
Also sprach er zum Krösus, und weil er ihm gar nicht zu Willen
redete, noch sich an ihn kehrte, ward er entlassen, und Krösus hielt ihn