Full text: [Teil 4 = Kl. 5 u. 4, [Schülerbd.]] (Teil 4 = Kl. 5 u. 4, [Schülerbd.])

denn mein Glück dir so gar nichts, daß du nicht einmal mit geringen 
Bürgern mich gleich setzest?" 
Solon aber sprach: „O Krösus, mich, der da weiß, wie neidisch 
und voller Wandel die Gottheit ist, mich fragst du um der Menschen 
Schicksal? Ich setze des Menschen Alter auf siebenzig Jahre. Diese 
siebenzig Jahre machen fünfundzwanzigtausendundzweihundert Tage, und 
da rechne ich noch keinen Schaltmond. Soll nun ein Jahr um das 
andere noch einen Mond dazu haben, daß die Zeiten gehörig zusammen¬ 
treffen, so geben die siebenzig Jahre noch fünfunddreißig Schaltmonde, 
das macht tausendundfünfzig Tage. Von allen diesen Tagen, die auf 
siebenzig Jahr sechsundzwanzigtausendzweihundertundfünfzig Tage be¬ 
tragen, geht es uns nun an keinem einzigen gerade so, wie an dem 
andern. Daher, o Krösus, ist der Mensch eitel Zufall. Du bist, wie 
ich sehe, gewaltig reich und Herr über viele Völker; das aber, wonach 
du mich fragst, kann ich dich nicht nennen, bevor ich nicht erfahre, daß 
du dein Leben glücklich beendet. Denn mit Nichten ist der Reiche glück¬ 
seliger, als der nur sein tägliches Brot hat, wenn er nicht das Glück 
hat, seinen Reichtum zu genießen bis an sein Ende. Viele, die da 
gewaltig reich sind, leben nicht glücklich; aber vielen, die nur ihre Not¬ 
durft besitzen, geht es wohl. Und der überreiche, aber unglückliche Mann 
hat nur in zwei Dingen Vorzüge vor dem, welchem es wohl geht, dieser 
aber in vielen Dingen vor dem unglücklichen Reichen. Dieser nämlich 
kann eher haben, was sein Herz begehrt, und eher ertragen, wenn ein 
harter Schlag ihn trifft; jener aber hat das vor ihm voraus, obwohl 
er seine Gelüste nicht also stillen und einen Schlag nicht so leicht ertragen 
kann, daß sein Wohlergehen ihn davor bewahrt; er ist gesund an seinen 
Gliedern, weiß von Krankheit und Leiden nichts, hat Freude an seinen 
Kindern und ist wohl gebildet. Kommt hiezu nun, daß er sein Leben 
gut beschließt, so kann er glückselig genannt werden in dem Sinne, wie 
du meinst. Vor seinem Ende aber muß man sich wohl hüten, daß man 
sage, er sei glückselig, sondern nur, es gehe ihm wohl. Es ist aber 
unmöglich, daß ein Mensch dieses alles zumal erlange, und so wie ein 
Land nicht alles hervorbringt, sondern das eine hat und Mangel leidet 
am andern, das aber, welches das meiste hat, das hat den Vorzug; 
also ist auch ein Menschenleib sich selbst nicht zur Genüge; das eine 
hat er, das andere bedarf er. Wer nun das meiste bis an sein 
Ende hat und freudigen Mutes sein Leben beschließt, der, o König, 
verdient nach meiner Einsicht den Namen des Glückseligen. Bei jeg¬ 
lichem Dinge muß man auf das Ende sehen, wie es hinausgeht; denn 
vielen hat Gott das Glück vor Augen gehalten und sie dann gänzlich 
zu Grunde gerichtet." 
Also sprach er zum Krösus, und weil er ihm gar nicht zu Willen 
redete, noch sich an ihn kehrte, ward er entlassen, und Krösus hielt ihn
	        
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