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82. Scheiden
Es ist bestimmt in Gottes Rat,
Daß man vom Liebsten, was man hat,
Muß scheiden;
Wiewohl doch nichts im Lauf der Welt
Dem Herzen ach! so sauer fällt
Als scheiden, ja scheiden.
So dir geschenkt ein Knösplein was,
So thu es in ein Wasserglas;
Doch wisse:
Blüht morgen dir ein Röslein auf,
Es welkt wohl schon die Nacht darauf;
Das wisse, ja wisse!
Und hat Gott Liebes dir beschert,
Und hältst du es recht innig wert,
Das Deine;
Es wird wohl wenig Zeit noch sein,
Da läßt es dich so gar allein;
Dann weine, ja weine!
Nur mußt du mich auch recht verstehn,
Ja, recht verstehn;
Wenn Menschen auseinander gehn.
So sagen sie: „Auf Wiedersehn!"
Ja, Wiedersehn!
Feuchtersleben.
83. Wer ein tugendhaft Weib gefunden, der hat einen
größer« Schah denn köstliche Perlen.
Einen solchen Schatz hatte Rabbi Meir, der große Lehrer, gefunden.
Er saß am Sabbat in der Lehrschule und unterwies das Volk. Unter¬
des starben seine beiden Söhne, beide schön von Wuchs und erleuchtet im
Gesetze. Seine Hausfrau nahm sie, trug sie auf den Söller, legte sie
auf ihr Bett und breitete ein weißes Gewand über ihre Leichname.
Abends kam Rabbi Meir nach Hause. — „Wo sind meine Söhne",
fragte er, „daß ich ihnen den Segen gebe!" „Sie sind in die Lehrschule
gegangen", war ihre Antwort. „Ich habe mich umgesehen", erwiderte er,
„und bin ihrer nicht gewahr geworden." Sie reichte ihm einen Becher;
er lobte den Herrn zum Ausgange des Sabbats, trank und fragte aber¬
mals: „Wo sind meine Söhne, daß sie auch trinken vom Weine des
Segens?" „Sie werden nicht weit sein", sprach sie, und setzte ihm vor
zu essen. Er war guter Dinge, und als er nach der Mahlzeit gedankt hatte,
sprach sie: „Rabbi, erlaube mir eine Frage!" „So sprich nur, meine
Liebe!" antwortete er. — „Vor wenig Tagen", sprach sie, „gab mir
jemand Kleinodien in Verwahrung, und jetzt fordert er sie zurück. Soll
ich sie ihm wiedergeben?" „Dies sollte meine Frau nicht erst fragen",
sprach Rabbi Meir; „wolltest du Anstand nehmen, einem jeden das
Seine wiederzugeben?" „O nein!" versetzte sie, „aber auch wiedergeben
wollte ich ohne dein Vorwissen nicht." Bald darauf führte sie ihn auf
den Söller, trat hin und nahm das Gewand von den Leichnamen. „Ach,
meine Söhne", jammerte der Vater — „meine Söhne!" Sie wandte
sich hinweg und weinte. Endlich ergriff sie ihn bei der Hand und sprach:
„Rabbi, hast du mich nicht gelehrt, man müsse sich nicht weigern wieder¬
zugeben, was uns zur Verwahrung anvertraut ward? Siehe, der Herr
hat's gegeben, der Herr hat's genommen; der Name des Herrn sei ge¬
lobet!" — „Der Name des Herrn sei gelobet!" — stimmte Rabbi Meir
mit ein.-
Moses Mendelssohn.