372
II. Epische Dichtungen.
III. Gliederung. Der 1. Abschnitt (Str. 1—5) erzählt, wie der
Meister schon viele Glocken und zuletzt die schönste derselben, die „Sünder¬
glocke zu Breslau", gegossen hat.
Der 2. Abschnitt (Str. 6—28) enthält die Hauptbegebenheit:
а) die Vorbereitung zum Gusse (Str. 6—10), b) das Verhalten
des bei der Glocke gebliebenen Lehrlings (Str. 11—14), e) den Mord
und die Reue des Meisters (Str. 15—19), d) des Meisters Selbst-
anklage, seine Verurteilu ng und seine letzte Bitte (Str. 20—25),
б) das letzte Stündlein des Meisters und seinen Tod (Str. 26—28).
Der 3, Abschnitt (Str. 29 und 30) enthält die Weihe der Glocke.
IV. Charakteristik des Meisters. Auf die Charakteristik des Meisters
hat der Dichter den meisten Fleiß verwandt, und es ist ihm gelungen,
anfangs dem Leser die volle Achtung für den Meister abzunötigen;
und als die blutige, furchtbare Tat geschehen ist, verwandelt sich diese
Achtung in das innigste Mitleid mit dem armen Sünder.
Gleich zu Anfang wird der Meister uns als „ehrenwert" vorgeführt,
und bei diesen Worten sowie bei den folgenden, „gewandt in Rat und
Tat", denken wir nicht bloß an seine Geschicklichkeit, sondern auch
daran, daß er von seinen Mitbürgern zu allerlei Ehrenämtern er¬
wählt sein mochte, weil man ihn hochschätzte. Auch seine Richter kannten
ihn als guten Bürger; denn es tat ihnen wehe „um den wackern Mann".
Seine Berühmtheit als Glockengießer war aber weit über Breslau
hinausgegangen, da wir hören, daß er „viel Glocken gelb und weiß für
Kirchen und Kapellen" gegossen hat. Der Grund zu dieser Berühmtheit
lag besonders in der Kunst des Meisters, die Glocken so zu gießen, daß
sie „voll, hell und rein" klangen.
Auch betrieb er seine Beschäftigung nicht handwerksmäßig, son¬
dern er hielt sie für etwas Hohes; denn er goß die Glocken nur „zu Gottes
Lob und Preis"; als Zeichen seiner warmen Begeisterung für seine
Kunst hören wir, „er goß auch Lieb' und Glauben mit in die Form
hinein". So kann man aber nur von jemand sprechen, der mit ganzem
Herzen an seiner Arbeit hängt. Wie aber bei solcher Hingabe an
seinen Berus eine Glocke immer schöner und vollkommener wurde als
die andere, das sagen uns die Worte: „Doch aller Glocken Krone" usw.
Es war, wie wir später hören, die letzte Glocke, die der Meister
goß, und sie war auch die vollendetste, denn der Dichter nennt sie' „der
Glocken Krone", also ein Meisterstück.
Wie aber bei einem ernsten Menschen auch Überlegung vor Beginn
der Arbeit und angestrengter Fleiß unumgänglich notwendig sind, das
beweist unser Meister in Str. 6, wo der Dichter sagt: „Wie hat der
gute Meister" usw.
Sorgfalt, Bedachtsamkeit und unermüdlicher Fleiß
waren ebenfalls nachahmungswürdige Tugenden des „guten" Meisters.
Aber gerade sein Eifer und sein Streben, nur Herrliches und Gelungenes
hervorzubringen, sollte für den „ehrenwerten" Meister verhängnisvoll
werden. Sein Esser für die gute Sache schlägt um in Leidenschaft.