treten; erst jetzt kann sich ein epischer Stil entwickeln, dessen ruhige,
breitere Varstellungsweise sich zum Träger einer fortlaufenden Er¬
zählung allein eignet, während der sprunghafte, hymnisch-lyrische
Charakter der alten Strophen- und Thorpoesie eine solche ausschloß;
erzählen kann nur ein einzelner, nicht ein Chorus, wann die Fort- 50
entwicklung eintrat, ist nicht zu bestimmen, man irrt aber schwerlich,
wenn man sie in das Zeitalter der Völkerwanderung setzt; unsre
Zeugnisse für Linzelgesang stammen alle erst aus dieser Zeit, und
innere Gründe bestätigen diese Annahme. Die Ausbildung des epischen
Stiles setzt das Bedürfnis voraus, epische Stoffe zu behandeln, diese 55
aber sind bei den Süd- und Ostgermanen eine Bildung der völker-
wanderungszeit. Die Nordgermanen, die in ihren alten Sitzen verblieben
und nicht der Befruchtung der Phantasie durch die wechselvollen
Schicksale und Taten einer solchen Wanderzeit teilhaft wurden, haben
es auch zu keinem Epos gebracht; die Eddalieder sind, wie bemerkt, 60
strophisch und im Stile eher der alten hymnischen Lyrik als einem
Epos zu vergleichen.
Bei keinem Volk beginnt die Epik mit einem Epos, Einzellieder
episodischen Inhalts bilden den Anfang; so auch bei den Germanen.
Bei frohem Mahl ging die Zither von Hand zu Hand; wohl gab es 65
Berufssänger, aber Könige und Edle übten nicht minder die Sanges-
und Dichtkunst; bekannt ist die rührende Erzählung von Gelimer.
Die Umstände schlossen bei solchen Festen ein langes Epos aus, es
waren kurze epische Lieder, die „gesagt und gesungen", d. h. rezi¬
tierend unter Begleitung von Zither und Harfe (später wird die Fiedel?o
erwähnt) vorgetragen wurden; Beispiele solcher Einzellieder gewähren
das Hildebrandslied und namentlich die im angelsächsischen Epos Beo-
wulf eingestreuten Episoden, in denen unmittelbar oder inhaltlich
Lieder von Siegmund dem wälsung, von Finnsburgs Erstürmung usw.
als Vorträge bei frohem Gelage angeführt werden. 75
Den Stoff zu diesen epischen Liedern boten „die Taten der vor¬
fahren", die Helden des eignen Volkes, aber auch die der verwandten
Stämme; so wurde bei den Bayern und Sachsen auch der Lango¬
bardenkönig fllboin besungen, so ist der Held des angelsächsischen
Epos, Beowulf, ein Skandinave, ein Gaute oder Jäte. Neben den8o
geschichtlichen Helden aber bildeten mythische Heroen einen Hauptbestand¬
teil der Stoffe. Die Stämme, bei denen der Heldensang am fröhlichsten
blühte, die Goten, Wandalen usw., waren zur Zeit der Völker¬
wanderung bereits Christen; die Annahme des christlichen Glaubens
wie auch die Entfernung von den alten Kultstätten, die ein ver-85
Plümer-Haupt-Bachmann. Lesebuch VIII. 13