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gelesen, was du von ihnen gewünscht hättest zu hören. Wenn 
es heutiges Tages kein großer Ruhm mehr für ein Frauenzimmer 
ist, daß es lies't, so ist es noch immer einer, daß es aus Leru- 
begierde lies't, um vernünftiger und besser zu werden. Die 
Eitelkeit, die sich jetzt auf diese Seite gelenkt hat, vernichtet den 
Werth des Lesens, indem sie den Endzweck desselben verkehrt, und 
verwandelt die Weisheit in einen bloßen Putz. Hunderte em¬ 
pfinden, indem sie ein Buch lesen, kein Vergnügen stärker, als 
daß sie den Augenblick voraussehen, wo sie werden sagen können: 
ich hab' es gelesen! — Du, mein Kind, kennst die Absicht des 
Lesens besser, und es fehlt dir nur noch etwas Muth und Uebung, 
um sie ganz zu erreichen. 
Unsere Seele ist ein Maler, der entweder Originale nach der 
Natur, oder Copien von guten Originalen malt. Jene sind ihre 
eignen Empfindungen, ihre eignen Beobachtungen und Schlüsse; 
diese sind alle die Begriffe, die wir durch Unterricht und Lektüre 
erhalten. Gute Meister verfertigen die Copien nur als Schulen 
— so nennen sie ihre Uebungsstücke —, um ein richtiges Auge 
und eine feste Hand zu bekommen; schlechte bleiben dabei stehen 
und gründen darauf ihren ganzen Ruhm. 
Es kommt also Alles darauf an, das, was Andere aus ihren 
Erfahrungen durch eine lange oder durch eine kurze Reihe von 
Schlüffen gefolgert haben — denn auf Erfahrungen läßt sich doch 
am Ende Alles zurückbringen — so anzusehen, als ob wir es aus 
unsern eigenen gezogen hätten. Ehe wir selbst denken, müssen 
wir erst einem Andern nachdenken lernen. Das ist also der zweite 
Schritt, den du zwar auch schon versucht hast, den du aber nun 
noch beherzter thun mußt: Werde aus einer Leserin eine Schrift¬ 
stellerin! Wenn du liesest, so sondre den Gedanken vom Aus- 
drucke ab; nimm ihm seinen Putz und unterbrich zuweilen das 
Vergnügen, womit bei jedem Menschen die Neugierde das Weiter¬ 
gehen verknüpft, so lange, bis du dir mit ein paar Worten das 
denken kannst, was der Verfasser vielleicht auf Seiten gesagt hat. 
Diese paar Worte schreibe nieder; sie sind alsdann dein, so wie 
der Gedanke, den sie ausdrücken. Große Bücher können auf diese 
Art in Blätter verwandelt werden, die für uns mehr werth sind, 
als die Bücher, und die uns schon der Fähigkeit, selbst etwas 
Lesenswerthes zu schreiben, einen Schritt näher bringen. 
Aber nicht lange werden diese Auszüge bloß abgekürzte fremde 
Gedanken sein: du wirst in Kurzem deine eigenen in ihnen ent¬ 
wickeln. Die Ideen entzünden einander, wie die elektrischen Fun¬ 
ken. Wenn die Seele einmal in Arbeit und in Bewegung ist; wenn 
sie einmal den Faden des Denkens in der Hand hat: so geht sie 
geschwinde von der Nachbildung fremder Begriffe zur Hervorbrin¬ 
gung eigener über. Ehe man sich's versieht, kommt aus dem
	        
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