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Rath gefragt, wie sie ihr neugebornes Mädchen erziehen sollte
und erhielt darauf folgende Antwort:
Professor M. an Malwina.
(Abgekürzt.)
Billig sollte ich Ihnen, meine Gnädige, zu Anfange meines Briefes
recht viel Angenehmes und Verbindliches über Ihr ehrenvolles Vertrauen, über
Ihr gütiges Urtheil, über Ihre ausgezeichneten Einsichten, über Ihre müt¬
terliche Gewissenhaftigkeit sagen, und am Ende wohl gar mich so ganz in
den Mantel der Bescheidenheit hüllen, daß Ihnen von meinen wahren Grund¬
sätzen nichts zu Gesichte käme. Aber ich bin, das wissen Sie, zu dem allen
unbeholfen. Ich will also lieber von dem, was ich vor der Hand, da Ihre
Kindlein noch so zart sind, für das Wichtigste halte, Ihnen etwas darlegen.
Mag mich dann Ihr Herr Gemahl für einen Ketzer oder für einen Altgläu¬
bigen halten, Ihr Herz richte und Ihre Erfahrung entscheide.
Mein erster, oder vielmehr mein einziger Rath ist: verderben Sie der
guten Mutter Natur ihr Werk nicht. Ich rede von der Erziehung und nicht
vom Unterrichte. Denn bei diesem müssen wir der Natur Gewalt anthun,
und in 9—12 Jahren am einzelnen Menschen ein Werk vollenden, zu dem
sich die Natur beim Menschengeschlechte Jahrtausende Zeit nahm. — Die
größte Kunst, die eine weise Mutter bei der Erziehung zu beweisen hat, ist
die: sie muß dafür sorgen, daß Mutter und Kind sein natürlich bleiben;
daß, wo unvermeidliche Verhältnisse und Eingriffe in ihr Werk das Unnatür¬
liche hervorgebracht haben, Alles so bald wie möglich wieder in seine Ord¬
nung komme. Das Thun ist also das Wenigste; das Verhüten und Ge¬
schehenlassen die Hauptsache. Mein ältester Knabe hatte das gewöhnliche
Schicksal der Erstgeborenen: es wurde schrecklich viel an ihm gethan. Da
lernte er denn freilich laufen, als er kaum 45 Wochen war. Aber er fiel
auch wöchentlich wenigstens einmal und so derb, daß seine Stirn noch jetzt
die Spur davon trägt. Dafür hatte er aber auch zeitiger laufen gelernt, als
die Natur wollte. Der zweite lernte es später, aber in der Ordnung der
Natur, und weiß bis jetzt fast nichts, was ein gefährlicher Fall sagen will.
Ihr Elementarwerk *) weis't das Kind an's Bild, und das taugt nichts. Am
*) Basedow stellte um das Jahr 1770 neue Grundsätze der Erziehung auf. Er
verlangte, man sollte die Kinder naturgemäßer erziehen. Darin hatte er ganz
recht; aber er übertrieb die Sache und machte viele Fehlgriffe. Der treffliche Fürst
von Dessau berief ihn nach Dessau, errichtete nach Basedow's Grundsätzen eine
Erziehungsanstalt, das Philanthropin, und machte B. zum Direktor derselben. An¬
fangs ging die Sache gut von Statten, und Männer, die nachher berühmt ge¬
worden sind: Salzmann, Campe, Matthisson und andere waren Lehrer an der¬
selben. Allein Basedow's Heftigkeit und seine zuweilen sehr sonderbaren Ansichten
verdarben alles, so daß sich nach wenigen Jahren die Schule auflös'te. Basedow
legte seine Grundsätze in einem Werke dar, das er das Elementarwerk nannte. Er
starb 1790 in Magdeburg in Armuth. Aber seine Grundsätze hatten in dem Er¬
ziehungswesen eine sehr glückliche Veränderung bewirkt, und dämm müssen wir
das Andenken dieses gutmcinendcn Mannes segnen.