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60. Der Baumstamm.
Sehe ich auf meinem Wege einen gefällten Baumstamm liegen,
so kann ich nicht vorübergehen, ohne den Todten zu betrachten und
sein Geschick zu erforschen. Ich zähle die Ringe auf der Durch¬
schnittsfläche und weiß nun, wie alt er geworden, wie viel Jahre
er gegrünt und geblüht hat, ich sehe, daß einige der Jahresringe
dünner und schmaler ausgefallen sind als die übrigen; das sind
Hungerjahre für den Verstorbenen gewesen, da hat er mit Nahrungs¬
sorgen zu kämpfen gehabt. Dagegen stnde ich einen anderen un-
gemein breit; in diesem Jahre ist es ihm wohlergangen, da hat es
an Sonnenschein und Regen nicht gefehlt. Ich bemerke ferner, daß
der Kernpunkt, das Mark, nicht in der Mitte der Dnrchschnitts-
fläche liegt, daß auf der linken Seite des Stammes die Jahresringe
enger zusammen stehen als auf der rechten, und weiß nun, daß
nach seiner rechten Seite die Nahrung ihm reichlicher zugeströmt ist
als nach der linken. Vielleicht hat der Todte, der jetzt am Wege
liegt, einst am Saume eines Waldes gestanden; vom Walde, wo
er mit vielen seiner Brüder die Nahrung zu theilen hatte, konnte
ihm nicht so viel gespendet werden als von der Waldwiese. Doch
ich sehe an seinem Stamme, daß nur die erste Hälfte seines Lebens
diese Erscheinung bietet, die zweite Hälfte hat die Jahresringe
ringsum gleichmäßig stark angesetzt. Wahrscheinlich sind seine
Nachbarn früher gefällt als er, ihn als einen Spätling hat man
noch eine Zeit lang stehen lassen. H. Gudc.
61. Der Holzhacker.
Ein Bäuerlein fällte die knorrige Eich';
Es seufzte und murrte bei jeglichem Streich:
„Es ist doch ein Jammer, es ist ein Verdruß,
Wie unser eins immer sich Peinigen muß!
Wie ist doch der Arme so elend daran!
Wär' ich doch ein reicher, vermögender Mann!"
Da kommt ein holder, schönlockiger Knab',
Im Silbergewande, mit goldenem Stab;
Er redet gar freundlich das Bäuerlein an: