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A. Erzählende Prosa. IV. Sagen, b) Griechische Sagen.
47. Kalypso.
Nach Karl Friedrich Becker. Erzählungen aus der alten Welt. Halle, 1864.
Ein Gott hatte über Odysseus' Haus solches Weh gesandt. Po¬
seidon, der Beherrscher des Meeres, zürnte dem Helden, denn er war
schwer von ihm beleidigt. Daher peitschte er ihn von Süd nach Nord,
von Ost nach West auf dem weiten Meere umher, zertrümmerte seine
Schiffe, tötete seine Gefährten und führte ihn durch Strudel und Klippen
zu Völkern, deren Sitte und Sprache ihm fremd waren. Jetzt, während
seine Habe von frechen Nachbarn verzehrt ward, saß er weit von der
Heimat gefangen auf einer einsamen Insel, Ogygia, wo eine Göttertochter,
Kalypso, herrschte, die ihn nicht entlassen wollte, weil sie ihn zum Gemahl
begehrte. Er aber, immer eingedenk des teuern Vaterlandes, der Gattin
und des Sohnes, ging täglich hinaus ans Gestade, setzte sich wehmütig
nieder bei der Brandung und wünschte nichts sehnlicher als nur ein¬
mal noch den Rauch von seinem Hause aus der Ferne aufsteigen zu
sehen, um dann beruhigt zu sterben.
Das rührte die Götter im hohen Olymp und vor allen seine
Freundin, Athene. Einst als sie alle im weiten Göttersaale versammelt
saßen und der feindlich gesinnte Poseidon gerade abwesend war, um
bei den fernwohnenden Äthiopen ein reiches Opfermahl einzunehmen,
benutzte Athene die schöne Gelegenheit, dem Vater Zeus des Odysseus
und der Penelope trauriges Schicksal recht beweglich vorzustellen. Der
König der Götter fühlte Mitleid und willigte gern in seiner Tochter
Bitten.
Auf Zeus' Befehl mußte Hermes sich aufmachen, der Nymphe
Kalypso den Willen der Götter bekannt zu machen. Er band die schönen
goldenen Sohlen unter die Füße, womit er leicht wie ein Vogel die
Lust durchschweben konnte, nahm dann den Schlangenstab in die Hand,
mit dem er Menschen töten und wieder erwecken konnte, und flog schnellen
Schwunges durch die Lüfte über die weite Meeresfläche hin. Alsbald
stand er auf der entlegenen Insel, wo die schöne Kalypso wohnte. Er
freute sich der reizenden Behausung, die so anmutig versteckt zwischen
Erlen, Pappeln und immergrünen Cypressen lag. In den dunkeln
Verschränkungen des Laubes nisteten gesangreiche Vögel, und den Ein¬
gang der hochgewölbten Felsengrotte umrankten schlängelnde Reben,
mit purpurnen Trauben prangend. Weiterhin dehnten sich fette Wiesen,
von vier schimmernden Bächen durchschnitten, und tausendfarbige Blumen
lachten aus dem heitern Grün hervor. Hermes selbst bewunderte den
lieblichen Wohnsitz, ging dann in die schöngewölbte Grotte, fand aber
den Odysseus nicht zu Hause. Der Arme hatte keine Ruhe in dieser
schönen Gegend; der freundliche Zuspruch der Göttin war ihm lästig.
Er Pflegte täglich sich an die ferne Brandung des Ufers zu setzen und
weit über das dunkele Meer hin nach der Richtung zu schauen, wo sein
geliebtes Vaterland lag. So quälte er sein Herz mit Weinen und
Jammern. Aber die Nymphe saß daheim am Webestuhle, wirkte sich
mit goldenem Weberschiffchen ein Gewand und sang mit melodischer