Full text: [Abteilung 1 = Sexta, [Schülerband]] (Abteilung 1 = Sexta, [Schülerband])

Jacobs: Mut zweier Knaben. Lessing: Der Löwe und der Hase. 9 
„Ach, mein Gott," sagte der Kleine weinend, „wenn wir umkämen, 
die Mutter stürbe vor Gram". Der eine Knabe steckte also unter dem 
Schlitten und dem dürren Holze; der größere aber, der Janko, stellte 
sich mit der Axt in Positur; und wie der eine Wolf, der am hitzigsten 
vorausgelaufen ist, herankommt, versetzt er ihm einen Hieb in den 
Nacken, daß er zu Boden fällt. In diesem Augenblicke packt ihn der 
andere Wolf am Arm und wirft ihn zu Boden. Hier faßt er nun in 
krampfhafter Angst das Untier mit beiden Händen an der Kehle und 
hält den weit geöffneten Rachen von sich ab, ohne doch zu schreien, um 
das Leben seines Bruders nicht in Gefahr zu bringen. Diesen aber 
ergreift in seinem Versteck eine unbeschreibliche Angst. Er wirft den 
Schlitten und das Holz von sich, rafft die zur Erde gefallene Axt aus 
und versetzt dem Wolfe einige Hiebe auf den Rücken. Dieser wendet 
sich nun gegen den neuen Feind, und er würde ihn ohne Zweifel zer¬ 
rissen haben, hätte sich der andere nicht blitzschnell aufgerafft und die 
Axt dem Wolfe in den Kopf geschlagen. So waren also zwei schwache 
Knaben durch Gottes Hilfe und ihren Mut Meister zweier furchtbaren 
Raubtiere geworden, ohne selbst eine gefährliche Wunde bekommen zu 
haben. Verwundert sahen sie sich jetzt einer den andern an, dann die 
Tiere, die mit offenem Rachen tot auf dem Rücken lagen, und staunten 
über das furchtbare Gebiß und die gewaltigen Zähne, die sie hatten 
zermalmen sollen. Dann knieten sie nieder, kreuzten sich und beteten, 
und nachdem sie Gott für ihre wunderbare Rettung gedankt hatten, kamen 
sie jubelnd mit ihrem Holze und den beiden erlegten Wölfen auf dem 
Schlitten nach Hause. Ich habe selbst in Bistritz die Knaben gesehen, 
wie sie mit den Wölfen durch die Straßen zogen, ihre Geschichte er¬ 
zählten und von der ganzen Stadt bewundert und geliebkost und beschenkt 
wurden. Ich kann nicht daran denken, ohne daß mir Thränen in die 
Augen kommen. Es waren gar zu hübsche, liebe und fromme Knaben. 
II. Zabeln. 
8. Der Löwe und der Hase. 
Von Gotthold Ephraim Lessing. Sämtliche Schriften. Berlin, 1838. 
Ein Löwe würdigte einen drolligen Hasen seiner näheren Bekannt¬ 
schaft. „Aber ist es denn wahr," fragte ihn einst der Hase, „daß euch 
Löwen ein elender krähender Hahn so leicht verjagen kann?" — „Aller¬ 
dings ist es wahr," antwortete der Löwe; „und es ist eine allgemeine 
Anmerkung, daß wir großen Tiere durchgängig eine gewisse kleine Schwach¬ 
heit an uns haben. So wirst du zum Exempel von dem Elefanten gehört 
haben, daß ihm das Grunzen eines Schweines Schauder und Entsetzen 
erweckt". — „Wahrhaftig?" unterbrach ihn der Hase. „Ja, nun begreif' 
ich auch, warum wir Hasen uns so entsetzlich vor den Hunden fürchten."
	        
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