Theodor Storm.
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214. Distichen.
1. Die Scham.
Scham bezeichnet im Menschen die innere Grenze der Sünde;
Wo er errötet, beginnt eben sein edleres Selbst.
2. An den Menschen.
Wünsche dir nicht zu scharf das Auge, denn wenn du die Toten
In der Erde erst siehst, siehst du die Blumen nicht mehr!
3. Blumen und Dornen.
Blumenkränze entführt dem Menschen der leiseste Westwind,
Dornenkronen jedoch nicht der gewaltigste Sturm.
4. Unfehlbar.
Stelle dich, wie du auch willst, nicht wirst du die Feinde vermeiden,
Aber, wie Thetis den Sohn, kannst du dich fei'n für den Streit:
Mache so ganz dich zum Träger des Guten, des Wahren und Schönen,
Daß man die Götter verletzt, wenn man dich selber bekämpft!
5. Ethischer Imperativ.
Deine Tugenden halte für allgemeine des Menschen,
Deine Fehler jedoch für dein besonderes Teil!
6. Lüge und Wahrheit.
Was du teurer bezahlst, die Lüge oder die Wahrheit?
Jene kostet.dein Ich, diese doch höchstens dein Glück!
Sämtliche Werke, Bd. VH, S. 199 f., 222 ff.
Theodor Storm.
215. Dktoberlied.
i- Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenk ein den Wein, den holden!.
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden!
2. Und geht es draußen noch so toll,
llnchristlich oder christlich,
Ist doch die Welt, die schöne Welt,
So gänzlich unverwüstlich!