Full text: Prosa aus Religion, Wissenschaft und Kunst (Band 2, [Schülerband])

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Welche die Kriege hervorrufen; ohne sie würden die Völker in Friede und Freundschaft 
nebeneinander wohnen. Was nun vorweg die besitzende Klasse betrifft, — und das ist 
ja doch eine sehr große, sie umsaßt in gewissem Sinne nahezu die ganze Nation, denn wer 
hätte nicht etwas zu verlieren? — die besitzende Klaffe hat ja allerdings ein Interesse 
an allen Einrichtungen, welche jedem seinen Besitz gewährleisten. Aber, meine Herren, 
die Fürsten und überhaupt die Regierungen sind es wirklich nicht, welche in unseren 
Tagen die Kriege herbeiführen. Die Zeit der Kabinettskriege liegt hinter uns, — wir 
haben jetzt nur noch den Volkskrieg, und einen solchen mit allen seinen unabsehbaren Folgen 
heraufzubeschwören, dazu wird eine irgend besonnene Regierung sich sehr schwer ent¬ 
schließen. Nein, meine Herren, die Elemente, welche den Frieden bedrohen, liegen bei 
den Völkern. Das sind im Innern die Begehrlichkeit der vom Schicksal minder begünstigten 
Klassen und ihre zeitweisen Versuche, durch gewaltsame Maßregeln schnell eine Besserung 
ihrer Lage zu erreichen, eine Besserung, die nur durch organische Gesetze und auf dem 
allerdings langsamen und mühevollen Wege der Arbeit herbeigeführt werden kann. Von 
außerhalb sind es gewisse Rationalitäts- und Rassenbestrebungen, überall die Unzufriedenheit 
mit dem Bestehenden. Das kann jederzeit den Ausbruch eines Krieges herbeiführen ohne 
den Willen der Regierungen und auch gegen ihren Willen; denn, meine Herren, eine 
Regierung, welche nicht stark genug ist, um den Volksleidenschaften und den Partei¬ 
bestrebungen entgegenzutreten, — eine schwache Regierung ist eine dauernde Kriegsgefahr. 
Ich glaube, daß man den Wert und den Segen einer starken Regierung nicht hoch genug 
anschlagen kann. Nur eine starke Regierung kann heilsame Reformen durchführen, nur 
eine starke Regierung kann den Frieden verbürgen. 
Meine Herren, wenn der Krieg, der jetzt schon mehr als zehn Jahre wie ein 
Damoklesschwert über unsern Häuptern schwebt, — wenn dieser Krieg zum Ausbruch 
kommt, so ist seine Dauer und sein Ende nicht abzusehen. Es sind die größten Mächte 
Europas, welche gerüstet wie nie zuvor gegen einander in den Kampf treten; keine der¬ 
selben kann in einem oder in zwei Feldzügen so vollständig niedergeworfen werden, daß sie 
sich für überwunden erklärte, daß sie auf harte Bedingungen hin Frieden schließen müßte, 
daß sie sich nicht wieder aufrichten sollte, wenn auch erst nach Jahresfrist, um den Kampf 
zu erneuern. Meine Herren, es kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger Krieg 
werden, — und wehe dem, der Europa in Brand steckt, der zuerst die Lunte in das 
Pulverfaß schleudert! 
Nun, meine Herren, wo es sich um so große Dinge handelt, wo es sich handelt 
um, was wir mit schweren Opfern erreicht haben, um den Bestand des Reiches, vielleicht 
um die Fortdauer der gesellschaftlichen Ordnung und der Zivilisation, jedenfalls um 
Hunderttausende von Menschenleben, da kann allerdings die Geldfrage erst in zweiter 
Linie in betracht kommen, da erscheint jedes pekuniäre Opfer im voraus gerechtfertigt. 
Es ist ja richtig, was hier mehrfach betont worden, daß der Krieg selbst Geld und 
abermals Geld fordert, und daß wir unsere Finanzen nicht vor der Zeit zu Grunde 
richten sollen. Ja, meine Herren, hätten wir die sehr großen Ausgaben nicht gemacht 
für militärische Zwecke, für welche der Patriotismus dieses Hauses und der Nation die 
Mittel gewährt hat, so würden allerdings unsere Finanzen sehr viel günstiger liegen, 
als es gegenwärtig der Fall ist. Aber, meine Herren, die glänzendste Finanzlage hätte 
nicht verhindert, daß wir bei mangelnden Widerstandsmitteln heute am Tage den Feind 
im Lande hätten; denn lange schon und auch jetzt noch ist es nur das Schwert, welches 
die Schwerter in der Scheide zurückhält. Der Feind im Lande — nun, wir haben das 
zu Anfang des Jahrhunderts sechs Jahre lang getragen, und Kaiser Napoleon konnte
	        
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