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Herbst.
Sie können den kalten Winter nicht ertragen; ihr Federkleid ist
zu sommerlich und leicht; sie würden ja erfrieren. Und wo sollten sie
auch unter dem Eis und Schnee alle die Beeren und Raupen und
Würmer und Körnlein finden, von denen sie leben? Wenn der
Morgen kommt, wollen sie doch essen und mittags auch, und Abend¬
brot wollen sie auch gern haben, auch wohl noch ein kleines Viertels¬
mahl dazwischen, — wo sollten sie das herbekommen?
Ziehen die Wolken vor den rauhen Winden dahin, als flögen sie,
so ziehen auch die meisten Vögel fort, fort nach Süden, in wärmere
Länder, wo der liebe Gott ihnen schon wieder den Tisch gedeckt hat;
sie ziehen über Berg und Tal, über Büche, Ströme, selbst über das
Meer dahin, hundert Meilen, zweihundert Meilen weit und noch weiter.
Niemand zeigt ihnen den Weg; sie wissen ihn schon selbst zu
finden; aber ehe sie ihren Weg antreten, hoch in der Luft oder niedriger
über die Stoppelfelder dahin, sind sie nicht fröhlich; sie flattern umher,
sie sammeln sich, Männchen und Weibchen und Brüder und Schwestern
und Verwandte und Freunde, schweben dann noch einmal rings um
die Gürten und Häuser, — und husch: geht es fort.
Schwalben und Wachteln, Nachtigallen und Grasmücken, die Rot¬
kehlchen, die Bachstelzen und Rotschwänzchen, Goldhähnchen, Buchfinken
und Waldtauben, der Kuckuck und der Wiedehopf, die Störche und die
Reiher, alle ziehen sie fort in ferne Länder. Unterwegs begegnet wohl
manchem Vögelein ein Unglück; aber die meisten kommen glücklich ans Ziel.
Und wenn nun die Sonne auch bei uns wieder wärmer scheint,
— siehe! da kommen sie wieder, weit, weit her zu uns. Jedes sucht
seinen Geburtsort wiederauf; und die Schwalbe findet ihr Nest wieder
am Dache und die Nachtigall das Gebüsch, in welchem sie vor einem
Jahre sang; alle finden die Stätte wieder, wo sie damals fröhlich
waren, und beginnen von neuem ihre schönen Lieder.
Ja, das ist sehr wunderbar, und kein Mensch kann's erklären, wie's zu-
geht. Wenn die Vögelchen sprechen könnten, dann würden sie's wohl sagen.
_ Franz Hoffmann.
171. Äas vogelgcfchrei.
Der reiche Kaufmann Sondersleben in Frankfurt am Main hielt
die Gebote des Herrn, seines Gottes, wie einer, dem sie nicht bloß in
die staubige Bibel auf dem Bücherbrette, sondern tief ins Herz ge¬
schrieben find. Außer seinen zwei großen Warenlagern hatte er ein
Kornhaus, darin große Haufen von Roggen und Weizen aufgeschüttet
waren, aber nicht zum Verkaufe, sondern für die Armen. Wenn nun
im Spütherbste die ersten Schneegänse hoch über das Tal hinflogen,
so fing er an zweimal in der Woche in sein Kornhaus zu gehen und
io und so viel Centner dem Bäcker neben der Domkirche abzuwägen.