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57. Herakles.
In Theben, der Hauptstadt des Landes Böotien rm mittleren
Griechenland, herrschte König Amphitryon, dessen Gemahlin ctlfmene
einen Lohn gebar, den Herakles (lat. Hercules), als dessen Vater Zeus
galt, der Gott des Himmels und der Erde. Als der Knabe acht
Monate alt war, sandte Hera, die ihm feind war, zwei schlangen
in seine wiege, um ihn zu töten,' allein der Knabe streckte lächelnd
seine Hände nach ihnen aus und erdrückte beide. Zeus aber, der eine
besondere Vorliebe für den schönen und kraftvollen Sohn gewann,
versprach ihm die Unsterblichkeit. Auch Amphitryon, der sterbliche
Pflegevater des Götterkindes, erkannte seine hohe Bestimmung und
ließ ihn frühzeitig von den besten Meistern in allen Künsten unter¬
richten, durch die sich die Helden jener Zeit auszeichneten. Die
angeborene Riesenkraft wuchs mit den Jahren, und sein Geist bildete
sich unter der Leitung des weisen Eheiron herrlich aus.
Als er zum Jüngling herangewachsen war, wandelte er eines
Tages in einsamer Gegend vor sich hin. Ver Drang nach großen,
heldenhaften Taten ward in seinem jungen herzen rege, aber daneben
auch eine ungestüme Begier nach den sinnlichen Freuden des Lebens.
Während er bald dem einen, bald dem andern nachhing, gelangte er
an einen Scheideweg. Er überlegte noch, welche Richtung er einschlagen
sollte, als ihm plötzlich zwei weibliche Gestalten entgegentraten. Die
eine, mit dem lockenden Schein der Schönheit, zierlich aufgeputzt und
Lecken, selbstgefälligen Blickes, drängte sich hastig der andern vor, trat
vor Herakles hin und versprach ihm. wenn er ihrer Leitung folgen
wolle, die höchsten Freuden eines mühe- und gefahrlosen Lebens, „wer
bist du?" fragte Herakles mit prüfendem Blicke. „Meine Freunde,"
sprach die Göttin, „nennen mich die Lust, meine Feinde aber das
Laster." Da schaute der junge Held nach der andern Gestalt' die war
nicht so schön, aber auf ihrem Antlitz strahlte ein himmlischer Friede;
bescheiden und würdevoll stand sie da und blickte ernst und doch freund¬
lich dem Jüngling ins Angesicht, „wohin wirst du mich führen?"
sprach Herakles zu dieser Gestalt. „Ich führe dich," war die Antwort,
„einen weg voll Arbeit, Kampf und Gefahr, aber ich verheiße dir
auch einen unvergänglichen Ruhm bei Göttern und Menschen, wenn
du meiner Leitung dich anvertraust." Diese Worte ergriffen das herz
des jungen Helden, der Göttersohn war schnell entschlossen; er stieß
die zudringliche Wollust zurück und reichte der bescheidenen Tugend
die Hand. Auf ihren Bat befragte er das Delphische Orakel, was er