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Gustav Freytag
Juden, den deutschen Kolonisten und den Polen nicht ohne jeden Vorgang
Kunde gab; um so heilsamer, als das Erziehliche nicht in unmittelbarer
leidiger Belehrung, sondern in leibhaften Gestalten verkörpert und in
Zuständen und Begebenheiten vermittelt erschien, auch ein reicher, durch
alle Tonarten des Leitern, Ironischen und Grotesken spielender Humor
den schweren Ernst löste. Die jüngsten Zeitgeschichten boten wenig Er¬
freuliches. Der Romantik mit ihrem ästhetischen Teegespräch, ihren taten¬
los durch die Welt schwadronierenden singenden, Waldhorn blasenden und
minnenden Taugenichtsen war man müde; Immermanns bedeutender
versuch, in den „Epigonen" Politik und Großindustrie in das alte
Geheg einzustellen, war ohne rechte Folge geblieben. Nun erschien ein
Roman, der hie und da frei an den geliebten Dickens erinnernd, statt von
schönen Geistern und schönen Seelen oder modernsten Strudelköpfen ernstlich
von einem kreuzbraven Kalkulatorssohn anhob und in manchem Betracht
den größten Gegensatz zu Goethes altem Evangelium der Roman- und
Lebenskunst, dem „Wilhelm Meister", bildete. Dort eine, freilich durch
„Hermann und Dorothea" schön beglichene Mißachtung des Bürgertums,
wie denn der Kaufmann nur als öder Krämer erschien und überhaupt
auf Jahrzehnte hin ein gefährlicher Wahn vom „Philister" um sich griff;
eine laxe Behandlung der Ehe; ein seltsames Gängeln des für immer
dem engen Kontor entweichenden Kaufmannssprossen durch vornehme
Herren; eine gesunde Abwehr zwar des Romantisch-Kranken, des theatra¬
lischen Scheinwesens, des frivolen Schloßlebens, des weltfremden Pietis¬
mus — doch endlich in den „Wanderjahren" konstruierte der Dichter
mit erlahmter Greisenhand ein pädagogisches Nirgendheim und eine
vorurteilslos alle Völker, Religionen und Stände zur Gemeintätigkeit
bindende Internationale: vom Staat ist in diesem großen Bildungsroman,
dessen erste Gestaltung der ruhigen Zeit vor der Revolution angehört,
gar nicht die Rede. Dagegen führt Freytag seinen guten Anton aus der
Adelssphäre zurück in das Haus Schröter, wo die Arbeit eine Lust ist
und die Ehre eine Heimat hat, von dem Freifräulein zu Sabine zurück,
indem er Gleich und Gleich paart. Wer nicht redlich auf seinem Posten
arbeitet, geht hier zugrund, aber ein respektvoller Humor umspielt die
so hübsch unterschiedenen Gehilfen der Firma; nur der Hausgeist, die
gelbe Gipskatze, der wir den struppigen Unhold Speihahn vorziehen, hat
etwas Spieleriges. Die größten preußischen Überlieferungen vom acht¬
zehnten Jahrhundert her wirken mächtig fort in den lang gesponnenen
Kämpfen des Deutschen und des Polen, und anders als im „Wilhelm
Meister" dürfte Herr v. Fink, ein herberer aristokratischer Vetter Bolzens,
die Losung aussprechen: Hier oder nirgends ist Amerika! Er vollzieht