Full text: Für Klasse 2 (neuntes Schuljahr) und die Obertertia der Studienanstalten (Teil 8, [Schülerband])

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den Christenmenschen, der dies findet, daß er sich um Jesu willen des 
Kindes erbarme. Es ist getauft und heißt mit Namen Johann Friedrich.“ 
Der Stadtpfeifer nahm sein Brot in den einen Arm und das Kind 
in den anderen und schlug den Zipfel seines langen Rockes um den 
armen Wurm. 
„Herr Gott!“ rief er, „du sollst mir nicht umsonst die Groschen 
auf die Straße gelegt haben!“ 
Dieser kurze Ausruf aber war wie ein volles, brünstiges Gebet. 
Erst als der Stadtpfeifer mit dem Doppelfund vor seiner Stuben— 
türe stand, überkam ihn Zagen und Verlegenheit. Doch schon öffnete 
Frau Christine und begrüßte ihn so zärtlich, als müsse der Gruß allein 
jede Erinnerung an Streit und Unmut tilgen. 
Der Stadtpfeifer legte das Brot auf den Tisch und das Kind 
daneben. „Das habe ich unterwegs gefunden, Christine,“ sagte er trocken 
und blickte dabei die Frau so ernsthaft an, daß sie laut lachen mußte, 
und er selber lachte nun mit. Dann setzte er sich und erzählte treu— 
herzig seine Geschichte und hob im Erzählen das Kind wohl ein dutzend— 
mal auf, damit es ihn anlächle und er es küsse. Als er von den sechs 
Groschen erzählte, da ward es auch der Frau ganz fromm zumute; 
doch als er dann weiter seinen Bericht über den Fund des Kindes 
beendet, sprach sie: „Du tatest recht, daß du das Würmchen mitgebracht 
hast; morgen wollen wir zum Schultheißen gehen und ihm den Buben 
einhändigen.“ 
Den Stadtpfeifer überlief es, wie wenn er mit kaltem Wasser 
übergossen würde. Er erwachte erst jetzt zur klaren Überlegung. Daran 
hatte er noch gar nicht gedacht, was es heiße, ein Kind aufziehen und 
versorgen, und daß vor allem eine Mutter dazu gehöre, die sich mit 
voller Liebe und Opferung des hilflosen Geschöpfes annehme. Nicht 
ihm, sondern der Frau kam hier das entscheidende Wort zu. Es hatte 
ihm so vorgeschwebt, als müsse der Kleine auf immer bei ihm in seiner 
Pfeiferstube bleiben und dort aufwachsen so ohne weiteres wie ein 
Blumenstock, den man ans Fenster stellt, zeitweilig begießt und im 
übrigen unserem Herrgott überläßt. Nun fühlte er auf einmal, wie 
gedankenlos er geträumt. 
Er besann sich lange; er kämpfte lange mit sich selber. So viel 
Kopfbrechens hatte er sich nicht gemacht seit der Stunde, wo er den 
leichtsinnigen Entschluß faßte, das Bauernmädchen von Ebersbach zu 
heiraten.
	        
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