Full text: Für die untern und mittlern Klassen (Teil 1, [Schülerband])

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Es ist erstens ein verlehrter Weg, den der einschlägt, welcher sich 
selber kennen lernen und seinen Wert prüfen will, sich nur mit andern zu 
vergleichen, ihren größern Fehlern seine kleinern, ihren kleinern Tugenden seine 
größern, wohl gar seine Tugenden ihren Fehlern gegenüber zu stellen. Welcher 
Mensch, der zum Guten verdrossen ist, würde nicht bald einen andern aus— 
spähen, der ihm noch verdrossener scheint? Wenn seine Tugend noch schwach 
und zweideutig auf den Wogen der Gefühle schwankt, wird er wohl keinen 
finden, dem sie gänzlich fehlt? Weiß er mancher guten Eigenschaft sich nicht 
zu trösten, so ist er doch wenigstens von Fehlern frei, die er in dem Be— 
tragen anderer so häufig bemerkt, und glaubt dann gut zu sein, weil es so 
viele noch weniger sind als er, weil er noch einen so großen Abstand zwischen 
sich und dem Schwächsten bemerkt. So erhebt ein Mann im Evangelium 
die Stimme: „Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie andere Leute.“ 
— Es ist überhaupt schwer, sehr mißlich, fast unmöglich, immer aber ein 
zweckloser Umweg, durch Vergleichung mit irgend einem Menschen seinen 
eigenen Wert bestimmen zu wollen. Immer kennen wir uns doch selber 
noch besser als jeden andern Menschen. Wer prüft und wägt und bürgt uns 
ihren Wert oder Unwert? Und welcher Mensch weiß, was in dem Menschen 
ist, als nur der Geist des Menschen, der in ihm ist? Geht nicht das 
Köstlichste und Beste und Eigentlichste, was die Güte seiner Thaten und die 
seines Herzens entscheidet, sie vor Gottes Auge entscheidet, dem unsrigen fast 
ganz verloren? Seine heiligste und schönste That, die er im verborgenen 
Schatten der Bescheidenheit und Demut verrichtet, sein Herz, seine eigennutz⸗ 
losen, menschenfreundlichen Absichten selbst bei mißlungener That, seine stille, 
fromme Liebe zu Gott und dem Guten, seine Kämpfe, sein Ringen und 
Streben, besser zu werden, sein andachtvolles Gebet, seine schmerzhafte, an— 
haltende Reue, womit er seine Vergehungen büßt und den Himmel versöhnt, 
während ihn vielleicht die Erde verdammt; — oder auch von allem diesem 
das Gegenteil. Ebenso wenig kennen und bemerken wir die unzähligen innern 
und äußerlichen, wesentlichen oder zufälligen Hindernisse, die seinen Gang im 
Guten so oft wider seinen Willen aufhalten, ihn unvermerkt und unwillkürlich 
an die Grenze einer Vergehung vielleicht hinüberziehen, die, wenn er sie 
besiegt, seine minder glänzende Tugend sehr wert, wenn er erlag, seinen 
Fall sehr verzeihlich machen. Und an einem solchen Maßstabe, den wir 
nicht kennen, dessen Zeichen und Ziffern wir nie verstehen, wollten wir 
unsere Tugend prüfen, unsere beste Habe schon auf Erden und die einzige, 
die uns nachfolgt? Wollten wir alle jene Umstände an uns selber auch aus 
dem Auge lassen, wie einseitig und unzuverlässig müßte unsere Beurteilung 
werden! Wollten wir sie in Beurteilung eines andern auch in Rechnung 
und Anschlag nehmen, welche Unmöglichkeit, die nur vor dem Allwissenden 
verschwinden kann, begönnen wir! — Immer kennen wir noch uns selber 
zum voraus besser als jeden andern. Immer wählt also der, welcher den 
Wert des Bekannten an dem Werte des Unbekannten berichtigen will, einen 
seltsamen, zwecklosen Umweg. Aber desto sicherer erreicht das Auge, das 
die Wahrheit flieht, auf seinen Krümmungen im Halblichte der Täuschung 
seine Absicht. — Es ist mißlich, durch Vergleichung mit irgend einem andern 
seines Werts sich versichern zu wollen. Auch stellt der Prüfende gewöhnlich
	        
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