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buchten, in die er sieh flüchtet. Ist’s aber ein kalter, regnerischer
Sommer, dann hat der arme barfuszlaufende Tropf höchstens
einen alten Sack über die Schultern zum Schutze gegen die Nässe.
Dessenungeachtet ist er fröhlich und scheint die Unbilden der
Witterung wenig zu fühlen. Abends dann treibt er heim, hat
seinen Hut mit Alpenblumen geschmückt und kehrt so frisch und
kräftig ins Dorf zurück, als er am Morgen auszog. —
So geht’s beim Geiszbuben vom Frühjahr bis in den Spät- j
herbst. Und als baren Lohn erhält er fürs Stück jährlich zwei
bis drei Batzen.
Am Südabhange der Alpen gibt’s grosze, prachtvolle, lang¬
haarige Thiere. Im Herbst, wenn sie keine Milch mehr geben, j
werden sie in die Wälder getrieben, ohne Aufsicht und Hut
sich selber überlassen, und erst im Frühjahr halb verwildert
wieder eingefangen. Nach Belgien, Frankreich und England
werden die zarten Ziegenfelle in groszen Massen zur Verwendung
für Glace-Handschuhe ausgeführt.
111. Des Krraöerr Wergkied.
Ludwig Uliland.
Gedichte. 56. Aufl. Stuttgart. 1872. S. 20.
[Zuerst in: Musenalmanach für das Jahr 1808, herausg. von Seckendorf. Regensburg. S. 134-1
1. Ich bin vom Berg der Hirtenknab,
seh' aus die Schlösser all herab.
Die Sonne strahlt am ersten hier,
am längsten weilet sie bei mir.
Ich bin der Knab vom Berge!
2. Hier ist des Stromes Mutterhaus,
ich trink' ihn frisch vom Stein heraus;
er braust vom Fels in wildem Lauf,
ich fang' ihn mit den Armen auf.
Ich bin der Knab vom Berge!
3. Der Berg, der ist mein Eigenthum,
da ziehn die Stürme rings herum,
und heulen sie von Nord und Süd,
so überschallt sie doch mein Lied:
Ich bin der Knab vom Berge!
4. Sind Blitz und Donner unter mir,
so steh' ich hoch im Blauen hier;
ich kenne sie und rufe zu:
Laßt meines Vaters Haus in Ruh!
Ich bin der Knab vom Berge!
5. Und wann die Sturmglock' einst erschallt,
manch Feuer auf den Bergen wallt,
dann steig' ich nieder, tret' ins Glied —
und schwing' mein Schwert und sing' mein Lied:
Ich bin der Knab vom Berge!
Aus dem Österberge, 29. Juni 1806.