Full text: (Fünftes und sechstes Schuljahr) (Teil 3, [Schülerband])

dieser Alte!" sagte der Kalif zu seinen Begleitern, „er thut, als ob er noch 
ein Jüngling wäre und die Früchte von diesem Baum genießen würde." 
Da seine Geführten gleichfalls über den Alten lachten, so ging der Kalif 
auf ihn zu und fragte, wie alt er sei. „Uber achtzig Jahre, Herr," war die 
Antwort; „aber gottlob! noch so gesund wie einer von dreißig." „Wie 
lange gedenkst du denn noch zu leben," sprach der Kalif weiter, „daß du 
in einem solchen Alter noch junge Bäume pflanzest, die so späte Früchte 
tragen? Warum machst du dir so vergebliche Arbeit?" 
„Herr," gab der Alte zur Antwort, „ich bin zufrieden, wenn ich die 
Bäume gepflanzt habe, ohne mich darum zu kümmern, ob ich oder ein 
anderer die Früchte davon genießen werde. Es ist billig, daß wir thun, 
wie unsere Väter thaten. Sie pflanzten Bäume, deren Früchte wir aßen; 
da wir nun der Väter Arbeit genossen haben, warum sollten wir nun gegen 
unsere Nachkommen neidischer sein, als jene gegen uns waren! Ich denke, 
was der Vater nicht genießt, das erntet der Sohn." Der freigebige Harun, 
dem diese Antwort gefiel, schenkte dem Alten eine Handvoll Goldstücke. 
„Wer kann nun sagen," fuhr der heitere Greis fort, „daß ich heute ver¬ 
geblich gearbeitet habe, da der junge Baum, den ich pflanze, gleich am 
ersten Tage so reiche Früchte trügt? Darum ist es wahr: Wer Gutes thut, 
wird immer reichlich dafür belohnt." 
12. Johann, der muntere Seifensieder. 
(Gekürzt.) 
Fr. von Hagedorn. Sämtliche poetische Werke. II. Teil. Hamburg, 1757. S. 118. 
Johann, der muntre Seifensieder, 
Erlernte viele schöne Lieder 
Und sang mit unbesorgtem Sinn 
Vom Morgen bis zum Abend hin. 
Sein Tagwerk konnt' ihm Nahrung bringen, 
Und wann er aß, so mußt' er singen, 
Und wann er sang, so war's mit Lust 
Aus vollem Hals und freier Brust. 
Beim Morgenbrot, beim Abendessen 
Blieb Ton und Triller unvergessen; 
Der schallte recht, und seine Kraft 
Durchdrang die halbe Nachbarschaft. 
Man horcht, nian fragt: „Wer singt schon 
wieder? 
Wer ist's?" „Der muntre Seifensieder!" 
Im Lesen war er anfangs schwach, 
Er las nichts als den Almanach;*) 
Doch lernt' er auch nach Jahren beten, 
Tie Ordnung nicht zu übertreten, 
Und schlief, dem Nachbar gleich zu sein, 
Oft singend, öfter lesend, ein. 
Er schien fast glücklicher zu preisen, 
Als die berufnen sieben Weisen, 
Als manches Haupt gelehrter Welt, 
Das sich schon für den achten hält. — 
Es wohnte diesem in der Nähe 
Ein Sprößling eigennütz'ger Ehe, 
Der, stolz und steif und bürgerlich, 
Im Schmausen keinem Fürsten wich. 
‘) Almanach, Kalender, Jahrbuch.
	        
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