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an deinem Bette sitzt und dir die Hand hält?" Da schlug er das Auge
aus und sah die Kaiserin lange klar an. Dann schloß er es, um es nicht
wieder zu öffnen. Der letzte Blick galt der Kaiserin. Als sich die Zeichen
des Todes deutlich ankündigten, segnete der Geistliche den Sterbenden ein
mit den Worten: „Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von
nun an bis in Ewigkeit! Ziehe hin in Frieden! Es ist noch eine Ruhe
vorhanden dem Volke Gottes. Vater, in deine Hände befehlen wir seinen
Geist, du hast ihn erlöst, du treuer Gott!" — Da, um acht Uhr 28 Mi¬
nuten morgens noch ein tiefes Aufseufzen — Kaiser Wilhelm hatte ge¬
endet. Hand in Hand blieb die Kaiserin mit dem Gemahl vereint bis
über den letzten Atemzug hinaus. Prinz Wilhelm stand am Fußende des
Bettes, angesichts des dahingeschiedenen Großvaters. Dann näherten sich
alle Familienmitglieder, um von dein geliebten Oberhaupt den letzten Ab¬
schied zu nehmen und ihm nochmals die Hand zu küssen. Alle knieten
vor dem Sterbebette nieder.
3. Mit Blitzesschnelle verbreitete sich in der Hauptstadt die Kunde
von dem Tode des Kaisers, während gleichzeitig der Telegraph sie in alle
Lande hinaustrug. Nachdem die kaiserliche Purpurstandarte auf dem Sterbe¬
hause halbmast gezogen war, geschah das gleiche mit den Fahnen auf allen
in der Nähe gelegenen öffentlichen Gebäuden und auf vielen Privathäusern.
Durch die nach vielen Tausenden zählende Menschenmenge, die schon vom
frühen Morgen an in der Nähe des Palais und Unter den Linden sich
angesammelt hatte, ging ein allgemeines Schluchzen. In den Schulen
wurde nach kurzen Ansprachen der Unterricht ausgesetzt, und die Kinder
^ eilten nach Hause, um weinend den Ihrigen die Trauerkunde zu über¬
bringen. Mancher Vater, manche Mutter hoben ihr Jüngstes empor und
wiesen es auf das freundliche Antlitz des Kaisers hin, dessen Bild fast in
feinem deutschen Hause fehlt, und das nun in aller Eile mit einem Trauer¬
flor geschmückt ward. Die Straßen füllten sich mit einer von Stunde zu
Stunde wachsenden Menge, die schmerzerfüllt an den Anschlagsäulen die
Todesnachricht las und dann nach den Linden drängte. Die Schaufenster
wurden schwarz verhängt, selbst ganze Häuser mit schwarzem Tuch und
Flor bekleidet. Trotz des strömenden Regens, der an diesem Tage
herniederfloß, hielten die Menschen stundenlang vor dem Palais und in
dessen Nähe aus. Aller Augen waren nach dem Eckfenster gerichtet, an
dem der geliebte Kaiser sich so oft gezeigt hatte. Die Trauer des ganzen
Volkes war unbeschreiblich. Durch das ganze Land ging der Klageruf:
„Wir sind wie Waisen, die ihren Väter verloren haben."
v. Bernhard Rogge. iKaiser Wilhelm I.)
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