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Schon neigte sich die Sonne ihrem Untergange zu, als wir den
Heimweg antraten, und ohne ermüdet zu sein, langten wir zu Hause an.
Nach Haag.
1. Goldne Abendsonne,
wie bist du so schön!
Nie kann ohne Wonne
deinen Glanz ich sehn.
2. Schon in früher Jugend
sah ich gern nach dir,
und der Trieb zur Tugend
glühte mehr in mir,
64. Goldne Abendsonne.
3. Wenn ich so am Abend
staunend vor dir stand,
und, an dir mich labend,
Gottes Huld empfand.
4. Doch von dir, o Sonne,
wend' ich meinen Blick
mit noch höh'rer Wonne
auf mich selbst zurück.
5. Schuf uns ja doch beide
eines Schöpfers Hand, —
dich im Strahlenkleide,
mich im Staubgewand.
H—e
Barbara Urner.
65. Die Veredelung.
Es war einmal ein Dornenstrauch, der stand auf kahlem Felde,
in trockenem, steinigem Boden. Er trug schlechte Blüten, und jeder—
mann ging ihm aus dem Wege; denn sobald man in seine Nähe kam,
stach er mit seinen spitzen Dornen. — Das war böse.
„Man muß den unnützen Strauch abhauen und verbrennen“,
sprach eines Tages der Besitzer des Feldes, auf dessen Grunde der
Dornenstrauch seit Jahren seine Zweige ausbreitete.
Da kam ein Gärtner gegangen. Er blieb vor dem verurteilten
Strauche stehen und sagte freundlich zu dem Herrn, der eben geredet
hatte: „Lieber Herr, der böse Dornenstrauch läßt sich vielleicht ver—
edeln; wollen Sie ihn mir überlassen? Ich will den Versuch mit
ihm machen.“
Mit Erlaubnis des Herrn hob der Gärtner den verachteten
Strauch samt seinen Wurzeln aus dem trockenen, steinigen Boden
und verpflanzte ihn in einen wohlgepflegten Garten. Hier schnitt er
mit scharfem Messer viele der dornigen Zweige ab und legte in
den Stamm einen edlen Keim. Nun wartete der Gärtner auf die
weitere Entwicklung des Strauches; aber er ließ ihn auch jetzt nicht
ohne Pflege. Mit Liebe und in Hoffnung benetzte er täglich seine
Wurzeln und Blätter.