Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberstufe mehrklassiger Schulen

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hinaus und zwingt ihn, sehender Zeuge des grossen Ereignisses 
zu sein. 
Doch das Ende des Unheils steht nahe bevor. Schon zeigt sich 
der glühende Fluss leicht gewölbt über den niedrigsten Stellen des 
Kraters, schon rinnt an einzelnen Punkten die geschmolzene Lava 
herab und traust langsam und schwer an den Wänden des Kegels 
hinunter, die niedrigen, ihr im Laufe begegnenden Gesträuche ent¬ 
zündend, dass sie mit flackernder Stelle emporlodern. Bald folgt 
solchen Vorläufern der Hauptstrom nach. Im Krater immer mehr 
emporgestiegen, durch neue Fluten näher und näher dem Rande 
gerückt, sinkt plötzlich unter Donnergekrach die Lava herab; aber 
in demselben Augenblicke bricht auch tief unten aus dem gebor¬ 
stenen Fusse des Kegelberges der feurige Schwall hervor. Fontänen¬ 
artig1) wird er vom Drucke der über der Öffnung stehenden Massen 
hinaus- und hinausgeworfen; dann immer breiter, mächtiger sich 
ergiessend, wendet er sich mit verderblicher Gewalt brennend und 
siedend in die blühende Ebene, gegen die Stätten der Menschen. 
Allein nun wird auch der Krater allmählich entleert und den ela¬ 
stischen Stoffen ein Ausweg geöffnet. Nun führen die aufsteigenden 
Dämpfe statt der festeren Auswürflinge bald nur noch Asche mit 
sich, und wieder streckt sich die dunkle Säule empor. Dieser maje¬ 
stätische ungeheure Aschenbaum bildet die Schlussscene der ganzen 
Erscheinung. Er breitet seine Krone unheilschwanger über die 
Ebene aus und bedeckt sie, sich senkend, mit seinem düstern Laube 
auf ewig; an 30 Meter mächtige Lager hat er einst über Her¬ 
culanum und Pompeji ausgeschüttet.2) 
Erst wenn wiederum Tagesklarheit den durch die grossartig¬ 
sten Leuchtfeuer nur schwach erhellten Finsternissen folgt, zeigt 
sich das Bild der Zerstörung in seiner ganzen Vollendung; alles 
urbare Erdreich ist rings umher von Asche bedeckt, auf den Wän¬ 
den des Berges und an seinem Fusse lagern die zahllosen Trümmer 
und Splitter der zersprungenen Auswurfsmassen, und zwischen neuen 
Erdschichten wühlt sich der noch immer heisse und rauchende, ja 
stellenweis flammende Lavastrom im selbstgebildeten Bette zu einer 
Tiefe hinab, wo ihm die Fallhöhe fehlt, und der zähe Fluss all¬ 
mählich in sich selbst erstarrt. Die Erde ist in eine trostlose Ein¬ 
öde verwandelt, — nirgends Halm noch Blatt, schwarz und kahl 
strecken die verdorrten Bäume ihre Äste in die qualmerfüllten 
Lüfte, und das thierische Leben hat schon längst aufgehört zu 
athmen, ja die glühende Asche hat selbst die Spuren seines Daseins 
Verlöscht. H. Masius. 
’) Fontäne, Springbrannen. 
2) Beide Städte sind jedoch nicht gleich stark verschüttet worden, nnr über 
Herculanum (richtiger Herculaneum), welches dem Vesuv näher liegt, beträgt 
die Erddecke gegenwärtig 22 bis 25 Meter, rührt aber, wie die Durchstiche zeigen, 
mindestens von sechs verschiedenen Ausbrüchen her. Pompejis Gebäude haben 
bloss eine Decke von 4 bis 6 Meter. Lava hat sich nicht über sie ergossen, 
das Verschüttungsmaterial besteht nur aus Asche und bröckelndem Gestein.
	        
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