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sanften Auge etwas ungemein Geistvolles. Seine hohe, freie Stirn ver—
riet den tiefsinnigen Denker, und wenn im Feuer des Gespräches sein
Antlitz sich leicht rötete, so lag in demselben etwas außerordentlich An—
mutiges. Noch mehr fesselte er durch seinen Eifer für alles Gute und
Schöne. Alles Unredliche und Falsche war ihm zuwider. Und ebenso
herrlich wie als Mensch war er als Dichter. Das deutsche Volk wird
sich an seinen Dichtungen erquicken und erheben, so lange es noch seine
Sprache redet und versteht. Schiller ist des deutschen Volkes Lieblings—
dichter geworden. Darum war die Feier seines hundertjährigen Geburts—
tages am 10. November 1859 auch ein Volksfest im schönsten und
edelsten Sinne des Wortes für die gesamte deutsche Nation. Nicht nur
in allen Gauen des deutschen Vaterlandes, sondern auch in weiter Ferne,
selbst jenseits des Ozeans, in Amerika, in Australien und wo nur immer
Deutsche sich zusammenfanden, wurde das Fest des deutschen Dichters
mit der gleichen Wärme und freudigen Begeisterung gefeiert.
Herzog.
A. Lieder und Sprüche.
49. Die Worte des Glaubens.
Und was kein Verständigen
ieht,
das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt.
Drei Worte nenn' ich euch, inhaltschwer,
sie gehen von Munde zu Munde;
doch stammen sie nicht von außen her;
das Herz nur giebt davon Kunde.
Dem Menschen ist aller Wert geraubt,
wenn er nicht mehr an die drei Worte
glaubt.
Und ein Gott ist, ein heiliger Wille lebt,
wie auch der menschliche wanke.
Hoch über der Zeit und dem Raume webt
lebendig der höchste Gedanke;
und ob alles im ewigen Wechsel kreist,
es beharret im Wechsel ein ruhiger Geist.
Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei,
und würd' er in Ketten geboren.
Laßt euch irren des Pöbels Geschrei,
nicht den Mißbrauch rasender Thoren!
Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht,
vor dem freien Menschen erzittert nicht!
Die drei Worte bewahret euch, inhaltschwer,
sie pflanzet von Munde zu Munde,
und stammen sie gleich nicht von außen her,
euer IJnnres giebl davon Kunde.
Dem Menschen ist nimmer sein Wert ge—
raubt,
so lang er noch an die drei Worte glaubt.
Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall,
der Mensch kann sie üben im Leben,
und sollt' er auch straucheln überall,
er kann nach der göttlichen streben.
50. Das Lied von der Glocke.
Vivos voeo. Nortuos plango. Pulgura frango.)
Fest gemauert in der Erden Zum Werke, das wir ernst bereiten,
sleht die Form, aus Lehm gebrannt. gezlemt sich wohl ein ernftes Worn
Heute muß die Glocke werden! Wenn gute Reden sie begleiten,
Frisch, Gesellen, seid zur Hand! dann fließt die Arbeit munter fort.
Von der Stirne heiß So laßt uns jetzt mit Fleiß betrachten,
rinnen muß der Schweiß, was durch die schwache Kraft entspringt.
soll das Werk den Meister loben. Denschlechten Mann muß man verachten,
Doch der Segen kommt von oben. der nie bedacht, was er vollbringt.
Lebende ruf' ich. Gestorbene beklag' ich. Blitze brech' ich.
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