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182. Der Sänger. — 185. Der Rattenfänger von Hameln
182. Der Sänger.
1.„Was hör ich draußen vor dem Tor,
Was auf der Brücke schallen?
Laß den Gesang vor unserm Ohr
Im Saale widerhallen!“
Der König sprach's, der Page lief;
Der Knabe kam, der König rief:
„Laßt mir herein den Alten!“
2. „Gegrüßet seid mir, edle Herr'n,
Gegrüßt ihr, schöne Damen!
Welch reicher Himmel! Stern beiStern!
Wer kennet Namen?
Im Saal voll Pracht und ue
Schließt, Augen, euch; hier ist nicht Zeit
Sich staunend zu ergötzen.“
3. Der Sänger drückt' die Augen ein
Und schlug in vollen Tönen;
Die Ritter schauten mutig drein —
Und in den Schoß die Schönen.
Der König, dem das Lied gefiel,
Ließ, ihn zu ehren für sein Spiel,
Eine goldne Kette reichen.
4., Die goldne Kette gib mir nicht,
Die Kette gib den Rittern,
Vor deren kühnem Angesicht
Der Feinde Lanzen splittern!
Gib sie dem Kanzler, den du hast,
Und laß ihn noch die goldne Last
Zu andern Lasten tragen!
5. Ich singe, wie der Vogel singt,
Der in den Zweigen wohnet;
Das Lied, das aus der Kehle dringt,
Ist Lohn, der reichlich lohnet;
Doch darf ich bitten, bitt' ich eins:
Laß mir den besten Becher Weins
In purem Golde reichen!“
6. Er ihn an, er trank ihn aus:
„O Trank voll süßer Labe!
O, wohl dem hochbeglückten Haus,
Wo das ist kleine Gabe!
Ergeht's euch wohl, so denlt an mich
Und danket Gott so warm, als ich
Für diesen Trunk euch danke!“
Joh. Wolfg. v Goethe.
183. Der Rattenfänger von Hameln.
Im Jahre 1284 ließ sich zu Hameln ein wunderlicher Mann sehen.
Er hatte einen Rock von vielfarbigem, buntem Tuch an, weshalb er
Bunting soll geheißen haben. Er gab sich für einen Rattenfänger
dus und versprach, gegen ein gewisses Geld die Stadt von allen Mäusen
und Ratten zu befreien. Die Bürger wurden mit ihm einig und ver⸗
sicherten ihm einen bestimmten Lohn. Der Rattenfänger zog nun ein
Pfeifchen heraus und pfiff; da kamen alsobald die Ratten und Mäuse
us allen Hausern hervorgekrochen und sammelten sich um ihn herum.
Al c hun meinte, es wären keine zurück, ging er hinaus und der ganze
Haufe folgte ihm und so führte er sie an die Weser; dort schürzte er
seine Kleider und trat in das Wasser, worauf ihm alle die Tiere folgten
und hineinstürzend ertranken.
Nachdem die Bürger aber von ihrer Plage befreit waren, reute sie
der versprochene Lohn und sie verweigerten ihn dem Manne unter
allerlei Ausflüchten, so daß er zornig und erbittert wegging Am
26. Juni, auf Johannis und Pauli Tag, morgens sieben Uhr, nach
anderen zu Mittag, erschien er wieder, jetzt in Gestalt eines Jägers,
erschrecklichen Angesichts, mit einem roten, wunderlichen Hut und ließ
seine Pfeife in den Gassen hören. Alsbald kamen diesmal nicht Ratten
Und Mäuse, sondern Kinder, Knaben und Mägdlein, vom vierten Jahr
an, in großer Anzahl gelaufen, worunter auch die schon erwachsene
Tochter des Bürgermeisters war. Alle folgten ihm nach und er führte