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194. Das Wunderland Ägypten.
194. Das Wunderland Ägypten.
den Nil würde Ägypten eine Wüste sein, da es fast nie dort regnet
vv und es ganz an Quellen fehlt. Der Nil aber giebt den Bewohnern nicht
nur das nötige Trinkwasser, sondern infolge der beständigen Regengüsse, die zu
einer gewissen Jahreszeit in den südlicher gelegenen Gebirgsländern stattfinden,
schwillt der Fluß regelmäßig vom August bis Ende Septembers so an, daß er
weithin seine Ufer überschwemmt und durch den sich ablagernden Schlamm das
Land befruchtet. Wenn dann das Wasser sich im Dezember soweit wieder ver¬
laufen hat, daß es in seinem eigentlichen Bette dahin fließt, wird das Getreide
in den noch schlammigen Boden gesäet. Soweit die Überschwemmung gereicht
hat, entwickelt sich die üppigste Fruchtbarkeit; aber unmittelbar an die herrlichsten
Kornfelder grenzt die trostloseste Wüste. Im Altertum war deshalb Ägypten
eine vielgepriesene Kornkammer; jetzt hat die Fruchtbarkeit sehr abgenommen,
denn teils hat der Fleiß der ordnenden Menschenhand nachgelassen, teils ist
durch die Ablagerungen des Nilschlamms im Verlauf der Jahrtausende der Boden
des Thals so erhöht worden, daß im südlichen Teil des Landes der Fluß jetzt
gar nicht mehr seine Ufer überschwemmt.
Die alten Ägypter waren ein mit guten Gaben von der Vorsehung aus¬
gerüstetes Volk, ihre Eigentümlichkeit entwickelte sich ganz im Einklang mit der
feierlichen Einsamkeit des fruchtbaren Bodens. Ihr Sinn war auf strenge Regel
gerichtet, eine feste und gleichbleibende Ordnung galt ihnen für das höchste Glück
des Lebens. Daher trieben die Söhne genau dieselbe Beschäftigung wie der
Vater, ja, die Gewohnheit ward bald zum unverbrüchlichen Gesetze. So ent¬
wickelte sich schon früh die Einteilung des Volkes in Kasten, d. h. streng von
einander geschiedene Stände, denen der einzelne schon durch seine Geburt so
fest angehörte, daß er nie den einen Stand mit dem andern vertauschen durfte.
Die höchste Kaste war die der Priester, dann folgten die Krieger, die Ackerbauer
und die Gewerbtreibenden; in späterer Zeit kamen dazu noch die Nilschiffer,
die Dolmetscher und — die veraltetsten von allen — die Schweinehirten.
Die Priester als Inhaber aller Wissenschaft und aller religiösen Geheim-
niffe gaben dem ganzen Volke die unabänderliche Regelmäßigkeit des Lebens.
Sie verehrten die wohlthätigen und die furchtbaren Mächte der Natur als Göt¬
ter: namentlich beteten sie die lebenweckende Sonne als Gott Osiris und die
geheimnisvolle Erdtiefe als Göttin Isis an. Merkwürdig ist dabei der Hang
des Volkes, gewisse Tiere als Sinnbilder der Gottheiten zu betrachten und
ihnen göttliche Verehrung zu widmen. So geschah es mit dem heiligen Stier
zu Memphis, Apis genannt; man glaubte, die Seele des Osiris wohne in ihm.
Auch das Krokodil, das Ichneumon, die Katze, der Sperber und andere Tiere
wurden göttlich verehrt: wer ein solches Geschöpf auch nur unabsichtlich tötete,
war selbst dem Tode verfallen. Vielleicht hing dieser Tierdienst zusammen mit
dem Glauben an die Seelenwanderung: die Ägypter waren nämlich von der
Fortdauer der Seele nach dem Tode überzeugt, sie dachten sich aber, daß die¬
jenigen, denen vom Totenrichter in der Unterwelt wegen ihres irdischen Lebens
die Seligkeit nicht zugesprochen würde, durch eine Reihe von Tierleibern hin¬
durch wandern müßten, bis sie gereinigt wären. Da sie zugleich glaubten, daß
die ungestörte Fortdauer der Seele im Totenreiche von der Erhaltung des