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Und als der Schnee fertig war, sprach der Schöpfer zu ihm: „Die
Farben kannst du dir aber selbst suchen; denn du frissest ja alles“
Da ging nun der Schnee zum Gras und sprach: „Gieb mir deine grüne
Farbe!“ Aber vergeblich. Dann ging er zur Rose und bat um ihr rotes
Kleid, hernach wanderte er zum Veilchen und von ihm zur Sonnenblume; denn
er war gar eitel und wollte sich in ein glänzendes Gewand kleiden.
Aber Gras und Rose und die übrigen Blumen lachten den putzsüchtigen
Schnee aus und erfüllten ihm seine Bitte nicht. Und er zog traurig seines Weges.
Da kam er zum Schneeglöckchen gegangen, das einsam am Wege stand
und klagte ihm sein Leid und weinte bittere Thränen. „Wenn ich keine Farbe
erhalte“, so sagte er, „so wird es mir wie dem Winde ergehen, den niemand
sehen kann, und der darum so böse ist.“
Das Schneeglöckchen war aber ein gutmütig Ding, und es gab dem
Schnee ein weißes Kleid. Da ward der verachtete Schnee fröhlich.
Die hochmütigen Blumen aber, die ihn verlacht und verspottet hatten,
haßt er seit jenem Tage. Und wo er nur ein grünes Blättlein oder eine bunte
Blüte erhaschen kann, da bringt er ihnen den Tod.
Dem Schneeglöckchen aber thut er nimmer ein Leid.
(Twiehausen.)
314. Schneeglöckchen.
1. Ein Gräslein im Haine weint Thränen viel Tröpfchen,
ihm fehlt nur das eine: die Blüte am Köpfchen.
2. Und es sehnt sich zur Erden von Schnee ein Flöckchen,
zur Blüte möcht's werden, zum duftigen Glöckchen.
3. Da schwebet ein Engel hernieder geschwinde,
daß fest mit dem Stengel er das Flöckchen verbinde.
4. Und Schneeglöckchen prangen mit Dufte gefüllet
am Gras, des Verlangen der Engel gestillet.
Z5. Die Blumen sind blieben, du find'st sie noch heute.
Wir alle, wir lieben ihr Frühlingsgeläute.
(Twiehausen)
315. Das Veilchen.
Das Veilchen hatte das Schneeglöckchen sagen hören, der Winter wäre
schon fortgezogen, und der Frühling sei schon da. Das Veilchen dachte: „Der
Frühling hat es immer gut mit uns gemeint, du mußt nun eilen und ihn will—
kommen heißen und dich mit ihm unterhalten, sonst hat er Langeweile; denn das
Schneeglöckchen ist gestorben, und er ist nun wieder allein. Da reckte und dehnte
das Veilchen seine Glieder und hob das Köpfchen auf und war ganz vergnügt.
Aber als es seine blauen Äuglein aufmachte, da erblickte es den Schnee, der sich
vor der Sonne hinter den Zaun versteckt hatte. Da erschrak es gewaltig; denn