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heit und Geistesgröße berühmten Mann nicht anders als mit 
dem Kopfe eines Pythagoras oder Solon denken konnte! Aber 
der vielnmfassende Verstand, der in dieser hohen und breiten, über 
den buschigen Augenbrauen sich weit hervor wölbenden Stirne 
wohnt; der Geist, der aus diesen stieren Angen blitzt, und dir 
mit jedem Blick bis auf den Grund deines Innern zu sehen 
scheint, der entschiedene Ansdruck eines festen, männlichen, keiner 
Furcht noch Schwäche fähigen Charakters, einer unwandelbaren 
Heiterkeit und Gleichmüthigkeit, und einer biedern, allen Menschen 
wohlwollenden Seele, dieser Ausdruck, der seinem ganzen Gesicht 
scharf und tief aufgeprägt ist, macht in wenigen Augenblicken den 
ersten widrigen Eindruck schwinden; du fühlst dich immer stärker 
und stärker von ihm angezogen; ein unerklärbarer Zauber hält 
dich in seinem Kreise fest, und du wünschest, dich in deinem gan¬ 
zen Leben nie wieder von ihm entfernen zu dürfen. Wundre dich 
nicht, Lieber, daß ich mich so lange bei der Physiognomie des 
Sokrates verweile; denn ich habe mir in den fünf bis sechs Wo¬ 
chen, seit ich mit ihm lebe, ein ganz eigenes Studium aus ihr 
gemacht, und ich bin gewiß, daß sie einen wesentlichen Antheil 
an der außerordentlichen Gewalt und Ueberlegenheit hat, die dieser 
Mann — der, seinem Auszuge und seinen Glücksumständen nach, 
in ganz Athen Wenige unter sich sieht, — über alle Menschen, 
die sich ihm nähern, zu behaupten weiß. Ich habe ihn wäh¬ 
rend dieser Zeit, da ich selten von seiner Seite komme, nicht 
einen Augenblick anders, als heiter und freundlich gesehen; aber 
Antisthcnes versichert mich, daß sich nichts Fürchterlicheres denken 
lasse, als das drohende Gesicht, womit er in einem Handgemenge 
vor den Mauern von Potidäa einen feindlichen Trupp, der sich 
des verwundeten Alcibiades bemächtigen wollte, zurückgescheucht 
habe, und ich begreife vollkommen, daß er, sobald er will, grim¬ 
mig genug aussehen kann , um einem Löwen Angst einzujagen. 
Ohne Zweifel ist gerade dies die Ursache, warum der Ausdruck 
von Wohlmeinung und Güte eine so große Wirkung in seinem 
Gesicht thut, weil die natürliche Schönheit der Züge so wenig 
dazu beiträgt, und man also um so gewisser sein kann, daß es 
der Ausdruck wahrer Gesinnungen ist, und unmittelbar aus dem 
Herzen kommt. Das Nämliche gilt (in seiner Art) von dem 
ziemlich nahe an Hohn grenzenden Spotte, der in den aufgestülp¬ 
ten Nüstern seiner Delphinen-Nase lauert, aber durch die gewöhn¬ 
liche heitere Freundlichkeit seiner Augen und das gutherzige Lä¬ 
cheln seines dicklippigen Mundes so sonderbar gemildert wird, 
daß er aufhört, Spott zu sein, oder daß nur gerade so viel da¬ 
von übrig bleibt, um seiner Art zu scherzen und der ihm eigenen 
Ironie etwas Säuerlichsüßes zu geben, das unendlich angenehm 
ist, aber sich weder beschreiben noch nachmachen läßt. Kurz, ich
	        
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