438 Neudeutsche Literatur.
lieben ein Vaterland, dergleichen es für ihn nicht gibt. Wer zwar vielleicht
sein unsichtbares Leben, nicht aber eben also sein sichtbares Leben als ewig
arblickt, der mag wohl einen Himmel haben, und in diesem sein Vaterland,
aber hienieden hat er kein Vaterland, denn auch dieses wird nur unter dem
Bilde der Ewigkeit und zwar der sichtbaren und versinnlichten Ewigkeit erblickt,
und er vermag daher auch nicht sein Vaterland zu lieben. Ist einem solchen
keins überliefert worden, so ist er zu beklagen; wem eins überliefext worden
ist und in wessen Gemuthe Himmel und Erde, unsichtbares und sichtbares sich
durchdringen, und so erst einen wahren und gediegenen Himmel erschaffen, der
kaͤmpft bis auf den letzten Blutstropfen, um den theuren Besitz ungeschmälert
wiederum zu überliefern an die Folgezeit. So ist es auch von jeher gewesen,
ohnerachtet es nicht von jeher mit dieser Allgemeinheit und mit dieser Klar—
heit ausgesprochen worden. Was begeisterte die Edeln unter den Römern,
deren Gefinnungen und Denkweise noch in ihren Denkmalen unter uns leben
und athmen, zu Muhungen und Aufopferungen, zum Dulden und Tragen
fürs Vaterland? Sie sprechen es selbst oft und deutlich aus. Ihr fester Glaube
war es an die ewige Forldauer ihrer Roma, und ihre zuversichtliche Aus—
sicht in dieser Ewigkeit selber ewig mit fortzuleben im Strome der Zeit.
Inwiefern dieser Glaube Grund hatle, und sie selbst, wenn sie in sich selber
bollkommen klar gewesen wären, denselben gefaßt haben würden, hat er sie
auch nicht getäuscht. Bis auf diesen Tag lebet das, was wirklich ewig war,
in ihrer ewigen Roma und sie mit demselben in unsrer Mitte fort, und wird
in seinen Folgen fortleben bis ans Ende der Tage.
3. Fr. Wilh. Jos. v. Schelling.
(. 9. Lehrb. d. 860)
1. Ueber das Studium der Geschichte.
(Aus den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studium.)
Unterscheiden wir zunächst die verschiedenen Standpunkte, auf welchen
Historie gedacht werden kann. Der höchste ist der religiöse oder derjenige,
in welchein die ganze Geschichte als Werk der Vorsehung begriffen wird. Daß
dieser nicht in der Historie als solcher geltend gemacht werden könne, folgt
daraus, daß er von dem philosophischen nicht wesentlich verschieden ist. Es
bersteht sich, daß ich hiemit weder die religiöse noch die philosophische Con—
struction der Geschichte läugne; allein jene gehört der Theologie, diese der
Philosophie an und ist von der Historie als solcher nothwendig verschieden.
Der entgegengesetzte Standpuntt des absoluten ist der empirische, welcher wieder
zwei Seiten hat. Die der reinen Aufnahme und Ausmittlung des Geschehenen,
welche Sache des Geschichtsforschers ist, der von dem Historiker als solchem
nur eine Seite reprasentirt. Die der Verbindung des empirischen Stoffes
nach einer Verstandes Idealität, oder der Anordnung nach einem durch das
Subjekt entworfenen Zweck, der insofern didaktisch oder politisch ist. Diese
Behandlung der Geschichte in ganz bestimmter, nicht allgemeiner AWsicht ist,
was der von den Allen festgesetzten Bedeutung zufolge die pragmatische
heißt. So ist Polybius, der sich über diesen Begriff ausdrücklich erklärt,
pragmatisch wegen der ganz bestimmten auf die Technik des Kriegs gerichteten
Absicht seiner Geschichtsbucher: so Tacitus, weil er Schritt vor Schritt an
dem Verfall des wmischen Staats die Wirkungen der Sittenlosigkeit und des
Despotismus darstellt.