Kurze Charakteristik des Rationalismus und Pietismus. 121
Ideen Leibnizens, der philosophische Schulmeister der Nation geworden". „Er
hat das große Publikum philosophisch denken gelehrt — selbst Bauern haben
nach seiner Behauptung seine Logik gelesen — und dadurch die theologischen
Fesseln alles höheren Geisteslebens der Durchschnittsdeutschen mit gelöst. Er,
der Mann der trockenen Nüchternheit, war recht eigentlich der Mann der
mittelmäßigen Geister, die aber doch die Grundlage für die weitere Entwicklung
bildeten; seine Klarheit, Glätte und Ordnung war für sie geschaffen und be¬
förderte die Lehrbarkeit seiner Anschauungen." (Steinhaufen.)
Die kulturgeschichtliche Bedeutung Wolffs beruht aber nicht auf seinen
Leistungen als Philosoph von Fach, sondern auf den praktischen Einwirkungen
des Systems seiner Philosophie auf die Entwicklung der Ethik, der Religions¬
philosophie und des Staatsrechts; „denn gerade diese Gebiete ergriff Wolff
und spann hier Leibnizens Ideen zu jenem ausführlichen und platten Kanon
der Aufklärung aus, der zu den Zeiten Friedrich Wilhelms I. und auch viel¬
fach noch Friedrichs des Großen männiglich als der Weisheit Schluß aufs
leichteste einging". (Lamprecht.)
a. Die religiösen Anschauungen der Wolffschen Philosophie charakterisieren
sich in ihrer Beherrschung durch das rationalistische Nützlichkeitsprinzip als
eine reine Vernunftreligion; alles ist von dem gütigen Schöpfer zum
Nutzen des Menschen geschaffen worden nach einem von Anbeginn feststehenden
vernünftigen Weltplane. Für das Walten übernatürlicher Kräfte, für die Willkür
des Wunders und der Offenbarung bleibt in dem Zusammenhang der durch
eine lückenlose Kausalverknüpfung verbundenen Dinge kein Raum übrig; die
Vernunft ist daher die Quelle auch der religiösen Erkenntnis, das Dasein der
Gottheit, deren Weisheit und Größe läßt sich verstandesmäßig erkennen und
beweisen aus zweckmäßiger Durchführung der anthropozentrischen Weltordnung.
Ausbildung des Verstandes ist daher auch das wichtigste Mittel religiöser
Bildung.
ß. Auch die Ethik gründete sich nach den Lehren der Wolffschen
Philosophie durchaus auf den Kultus des Verstandes. Vollkommenheit des
Individuums sei das Ziel der sittlichen Bildung. Da die Seele nun als eine
vorstellende Substanz zu denken sei, werde diese Vollkommenheit ausschließlich
durch die Ausbildung der Verstandeskräfte bedingt.
y. Da die Vollkommenheit des für sich lebenden Einzelmenschen als das
höchste Ziel der vernünftigen Weltordnung galt, war der Staat nach rationa¬
listischer Auffassung nichts anderes als eine Einrichtung, welche die äußeren
Vorbedingungen für die möglichst vollkommene Ausbildung des Individuums
zu garantieren habe; die staatliche Gesellschaftsordnung erschien also dem
rationalistischen Denken nicht als ein lebendiger Organismus, der sich nach
ureigensten Gesetzen fortentwickle, sondern nur als eine Summierung von
Einzelpersonen.
e. Die Werkzeuge und Mittel zur Verbreitung des rationalistischen
Geistes in den gebildeteren Kreisen des Volkes fanden sich in den Universitäten,
den moralischen Wochenschriften und den geheimen Gesellschaften.
a. Zunächst wurden naturgemäß die Universitäten (Halle, Leipzig,
Göttingen, Erlangen, Tübingen) die vornehmlichsten Träger der neuen Welt¬
anschauung, vor allem Leipzig, wo die aufklärerische Dichtung und das neue
Theater entstand (Gottsched).