I. Die Germanen und ihre Staatenbildungen auf römischem Beichshoden.
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C) Allgemeine Kultur und Religion. Bei der rauhen Unwirt-
lichkeit des germanischen Landes, die die Germanen vor dem
Schicksal der Gallier bewahrte, blieb die äußere Lebenshaltung
dürftig, erzog aber ein starkes Kriegergeschlecht von unver¬
wüstlicher Lebenskraft. Zur Kleidung dienten die Felle erlegter
Jagdtiere oder einfache wollene und leinene Gewänder; Schmuck¬
sachen kamen aus dem Auslande. Die Häuser waren roh ge-
zimmerte, mit Schilf oder Stroh bedeckte Holzhütten, der Haus¬
rat überaus einfach. Die Nahrung bestand in dem Fleisch der
Haus- und Jagdtiere; auch aß man Früchte, Wurzeln, Beeren
und, als man den Acker zu bebauen anfing, Brot; als Getränk,
diente außer Wasser Milch, Met aus dem Honig wilder Bienen,
auch eine Art Bier. Den Tugenden der Tapferkeit, des Mutes,
der Keuschheit und Treue standen die Laster der Trunksucht
und Spielsucht gegenüber, zu denen der Grundsatz verführte,
daß der freie Mann keine Beschäftigung außer Krieg und Jagd
haben dürfe.
Auf geistigem Gebiete zeigt eine bei dem Mangel der
Schrift1 durch mündliche Überlieferung gepflegte und in einer
eigenartigen Kunstform, dem Stabreim, gehaltene Poesie und
eine tiefsinnige, von sittlichen Gedanken erfüllte RellgTon2 die
reiche Beanlagung dieses Volkes auch in der Zeit jener noch
unentwickelten Kultur.
Ursprünglich gab es verschiedene Kulte: bei der herminoni-
schen Volksgruppe war der oberste Gott der alt-arische Himmels-
und Kriegsgott Tiwaz (griech. Zeus, ahd. Zio), bei den Seegermanen
war der Dienst der Wanen (Frö und Frouwa oder Nerthus) ent¬
wickelt, bei den Rheingermanen der des Windgottes Wuotan oder
Wodan (in der Edda Ödhinn), bei den Nord- und Ostgermanen
der des Thor (ahd. Donar). Zwar waren die Götter zunächst nur
Verkörperungen der Naturkräfte; zwar war der Kultus zum Teil
schrecklich: brachte man doch den Göttern sogar Menschenopfer
1) Die Runenschrift, frühestens im 2. Jh. n. Chr. aus der lateinischen
entwickelt, wurde nur zum Teil als wirkliche Schrift, sonst auch beim
Zaubern und Losen benutzt.
2) Die Edda (= Poetik) ist keine Quelle für die altgermanische
Religion.