Napoleons Krieg gegen Rußland; 1812. 271
von den Pyrenäen bis zur Weichsel, von der Ostsee bis Neapel eilten
die Scharen unter die sieggewohnten Fahnen. Östreich stellte 30 000, der
Rheinbund 100 000. Dazu kamen noch 50 000 Deutsche aus Westfalen
und Norddeutschland (Hannover, Oldenburg u. s. w.). Preußen war in
einer gefährlichen Lage. Das Herz zog den König nach Rußland, aber
der Verstand wies ihn auf Frankreich. Zu Hardenberg, der den An¬
schluß an Rußland befürwortete, sprach er: „Der Abgrund zeigt sich auf
jeder Seite. Die nächsten und schwersten Gefahren drohen uns ohne
Zweifel, wenn wir uns gegen Frankreich erklären. Aber auf der andern
Seite stoßen wir die Freundschaft zurück und verbünden uns in einer
Sache, die uns widerstreitet." — „Preußen stand zwischen zwei Mächten,
von denen die eine bereit war, sich wie ein reißender Strom ans und
durch Preußen an die russische Grenze zu stürzen, die andere nicht ein¬
mal durch den Einmarsch in Warschau Preußen den Rücken zu decken
gewillt, vielmehr entschlossen war, dem Angriff des Feindes durch
Rückzüge in das Innere seines Landes auszuweichen. Wer wollte Ru߬
land tadeln, daß es seine Politik machte; aber wer durfte Preußen tadeln,
wenn es gleichfalls den Geboten seiner Lage in erster Linie Gehör gab?
Die Stärke der französischen Besatzungen in Magdeburg, den drei Öder¬
festungen und Danzig (70 000 Mann) erreichte fast die Stärke der ge¬
samten preußischen Armee. Konnte man Preußen einen Vorwurf machen,
daß es sich einen Kampf versagte, in welchem es Anfang November
150 000, vier Monate später sogar 400 000 Feinde vor sich, 50 000
Feinde inmitten seines Landes (in den Oderfestungen und Danzig),
endlich 50 000 Feinde (die sächsisch-polnische Armee)' in seinem Rücken
hatte? Wer durste es tadeln, wenn es einem unmöglichen Kampfe, dessen
Ausgang jede Aussicht abschnitt, auswich und eine Unterwerfung vorzog,
die wenigstens Aussichten Übrig ließ?" (Max Duncker.)
Preußen wäre, als Feind'Napoleons, zermalmt, ehe Rußland hätte
zu Hilfe eilen können. Daher bot der König Frankreich ein Bündnis
an; Napoleon nahm es an, aber er stellte sich, als übe er dadurch große
Gnade. Friedrich Wilhelm mußte das ganze Land, mit Ausnahme
einiger Festungen, Napoleon zur Verfügung stellen, außerdem ein Hilfs¬
heer von 20 000 Mann liefern. Scharnhorst, Gneisenau und viele andere
Offiziere nahmen ihren Abschied; die meisten derselben traten in russische
Dienste. Die Schmach Preußens hatte ihren Gipfelpunkt erreicht. Der
König schickte den General von Knesebeck nach Petersburg, dem
Zaren die Notwendigkeit des preußisch-französischen Bündnisses anzuzeigen,
welches letztere dieser als für Preußen unvermeidlich anerkannte. Dafür,
daß Preußen keine Barzahlungen zu leisten hatte, war dem französischen
Befehlshaber das Recht der Beitreibung von Lebensrnitteln für die
Truppen, von Wagen und Pferden, von Pulver, Kugeln, Patronen und
jeglichem Kriegsbedarf so schrankenlos eingeräumt, daß für die voll¬
ständige Ausplünderung und Entwaffnung Preußens jede nur irgend
wünschenswerte Bürgschaft gegeben war. So wurde Preußen „Brucke,
Kornkammer, Zeughaus und Lasttier."
b. Napoleons Zug nach Moskau. Im Frühjahre 1812 setzte sich
das ungeheure Heer in Bewegung: 610 000 Mann mit 1 345 Geschützen