„Ein jeder Künstler, wenn er am mächtigsten wirken
will, müßte sich jo lokal als möglich machen, und nicht
nur seine Kunst im ganzen an daS Leben und den Geist
seines Vaterlandes, seiner Nation anschließen, sondern
auch an den seiner nächsten Umgebung."
Ludwig Richter.
Wenn man in der Gegenwart über Einseitigkeit und unsachliches, oft nur
hypothetisch begründetes Urteil im politischen und kulturellen Denken unseres
Volkes klagt, so muß als eine wichtige und allgemeine Ursache dieses Übelstandes
der Mangel an geschichtlicher Bildung genannt werden.
Geschichtliche Bildung aber ist eine solche, die das Leben der Gegen¬
wart, vornehmlich innerhalb des eigenen Volkes, versteht unb würdigt als das
Produkt geschichtlicher Entwickelung, mit der auf Einsicht, Gefühl und Willen
abzielenden besonderen Bedeutung, diese Entwickelung weiter zu fördern in der
Richtung ihrer fruchtbarsten Kräfte, und sich so mit verständiger Absicht in den
Dienst derselben treibenden Kräfte zu stellen, die für die Vergangenheit als wirk¬
sam erkannt worden sind. — Diese treibenden Kräfte geschichtlicher Entwickelung
wirken in den verschieden gearteten Wechselbeziehungen im Zusammenleben kleinerer
oder größerer Gemeinwesen. Ihrer Natur nach sind sie gesellschaftliche, wirt¬
schaftliche, national-geschichtliche, geistige, religiös-sittliche. Und bie Anstöße hierzu
gehen sowohl von natürlichen Gemeinschaftsinterefsen aus, als auch von hervor-
ragenben Einzelnen, wobei zumeist bas Probukt beiber als treibenbe Kraft wirksam
wirb. Wahre geschichtliche Bilbnng beruht nun auf ber Einsicht in bie Wirkungs¬
weise solcher Wechselbeziehungen im Verlaufe ber geschichtlichen Entwickelung.
Sie wirb vermittelt burch beren Darstellung innerhalb in sich zusammenhängenber
Zeiträume unb ihrer charakteristischen Erscheinungen. Damit ist zugleich bie Haupt¬
aufgabe bes Geschichtsunterrichts gekennzeichnet. Leitfäben ober systematische
Darstellungen hier zugrunbe zu legen, schließt bie wirkliche Erreichung bieses
Zieles von vornherein aus; benn bas bebeutet einen Unterricht, „ber bem Schüler
burch einfache Mitteilung Begriffe unb zwar von ber größten, erbenklich schwierigsten
Sache, vom Werbegang unb innern Zusammenhang ber Entwickelung ber Völker
unb schließlich ber Menschheit zu überliefern vorgibt— Der aufrichtigen Wahrheit
ber Sache, bem gebulbigen Erarbeiten ber Begriffe verbleibt so gut wie
nichts!" (Natorp, Sozialpäbagogik.) Auf biesem Wege läßt sich bie Wirkungs¬
weise ber in ber geschichtlichen Entwickelung treitienben Kräfte nicht erkennen.
Im besten Falle wirb nur eine mehr ober weniger lehrhafte, unvermeiblich subjektiv
gefärbte Abstraktion gegeben, bie bas geschichtliche Denken unb Einfühlen viel zu