I. Die Renaissance.
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kühne Aufgabe schreckt; welch scharfer Wirklichkeitsblick in Leonardos
und Raffaels Kunstwelt, wo alles Himmlische die Art der Erde an¬
nimmt, wo Männern und Frauen die kraftvolle Gegenwart das
Gepräge verleiht. Aber auch deutsche Künstler atmen diesen durch¬
dringenden Geist der Fülle und Kraft. Man denke an Dürers
Melancholie und Rubens' Kreuzabnahme, an deutsche Fürstenschlösser
und Patrizierhäuser, an die Blüte des Kunsthandwerks etwa in Alm,
Nürnberg und Rotenburg, wo die kunstgewerbliche Pracht des kaiser¬
lichen Rom eine Wiedergeburt feierte. So erhebt sich die Kunst, die
im Mittelalter ausschließlich im kirchlichen Dienste gestanden hatte,
nun erst zu ihrer eigentlichen Löhe und sucht zeitgemäße, stolze
Ausdrucksformen für die Seele der Gegenwart, für den Reichtum
der Wirklichkeit, die einst nur schüchtern als Randverzierung sich
neben der Darstellung des Ewigen hervorwagen durfte.
Besonders folgenreich war die Tatsache, daß der auf dem Boden
der Erfindungen und Entdeckungen aufsprossende Zuwachs an Kennt¬
nissen schließlich in enge Berührung mit dem Humanismus trat.
Ausgehend von dem Gehalt der Antike, sucht der humanistische Ge¬
lehrte die neuen Kenntnisse und Forschungsweisen mit jenem zu einer
einheitlichen Bildung zu verschmelzen, und so erzeugt die
Renaissance jene Aniversalmenschen, in deren Köpfen alle Wissen¬
schaften noch gemeinsame Pflege finden. Man denke an Männer
wie Leonardo, Michel Angelo, Dürer, Nicolaus von Cues und als
letzten an Goethe. Am üppigsten blühte die mathematisch--
naturwissenschaftliche Forschung auf. Äier gelang der ver¬
wegenen Zeit der höchste Triumph. Auch hier ging der Weg über
das Studium der Alten, deren Wissen ergänzt, kritisch beleuchtet,
nötigenfalls durch Induktionsergebnisse widerlegt und in siegreichem
Weiterdringen überholt wurde. Die Antike (Ptolemäus, Plinius)
hatte das geozentrische Weltbild gezeichnet, und das ptolemäische
System wurde durch die Renaissance zunächst noch weiter ausgebildet,
bis die im Bunde mit der Mathematik stehende Astronomie (die erste
Sternwarte in Nürnberg um 1450) das alte Weltbild zerschlug und
die heliozentrische Betrachtung, die das Altertum nur flüchtig geahnt
hatte, an feine Stelle setzte (Galilei, Kepler). Das war nach Herder
und Goethe die größte Tat der Menschheit. Zwar eiferten
dagegen die Asketen, mit ihnen selbst Geister wie Melanchthon, aber
vergebens. Die Stellung des Menschen im All war nun völlig
verändert; keiner Autorität mochte er mehr trauen; der Zweifel
erschien als Anfang der Weisheit, und an die Stelle des alten
deduktiven (Aristotelisch-scholastischen) „Organon" mußte ein »Novum
Organum« (Baco), d. H. eine neue induktive Forschungsmethode
Kästner und Brunner, Geschichte. II. B. 9