Full text: Lesebuch für hannoversche Volksschulen

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Sonnenhitze einen Wedel von grünen Reisern und weht ihm damit 
ein kühles Lüftlein an. 
Eine arme Witwe, deren Kinder selber in theurer Zeit das Brot 
vor den Thüren suchten, hatte eine Henne und nährte sie mit den 
Brocken,, welche ihr und ihren Kindern übrig blieben. Aber nicht 
wenige von den Eiern, welche ihr das Huhn legte, kochte sie für 
einen kranken und verlassenen Menschen in ihrer Nachbarschaft und 
brachte sie ihm bald abends und bald morgens auf einem kleinen 
Porzellanteller und legte Petersilienkraut herum, dap sie appetitlich 
aussahen, als wären es Ostereier. 
Ein frommer Mann hat gesagt: Hilf und gib gern, wenn du 
hast, und dünke dich darum nicht mehr; und wenn du nicht hast, 
so habe den Trunk kaltes Wassers zur Hand, und dünke dich darum 
nicht weniger. 
108. vr. Luthers Wohlthätigkeit. 
Ein Mann, der um des Glaubens willen vertrieben war, sprach 
vr. Luther einst um eine Gabe an. Luther hatte selber nur einen 
Thaler in seiner Kasse, den er lange aufgespart hatte. Solche Geld¬ 
stücke wurden damals Ioachimsthaler genannt nach der Stadt Ioa- 
chimsthal am Erzgebirge, wo sie geprägt wurden; davon heißen sie 
heutzutage Thaler. Als Luther nun angesprochen ward, bedachte er 
sich kurz, griff fröhlich nach dem Thaler mit den Worten: „Jochen, 
heraus, der Herr Christus ist da," und gab ihn dem armen Manne. 
Einmal kam zum vr. Luther ein armer Student, der nach 
Hause reisen wollte und doch kein Reisegeld hatte. Er bat Luther 
um eine Gabe; der aber hatte diesmal selber gar kein Geld und 
wurde sehr betrübt, daß er nichts zu geben hatte? Wie er so traurig 
in der Stube umhersah, erblickte er einen schönen silbernen Becher, 
den er von seinem Kurfürsten zum Geschenk erhalten hatte. Da 
lief er mit fröhlichem Blick hinzu, ergriff das Kleinod und reichte 
es dem Studenten, indem er sprach: „Ich brauche keinen silbernen 
Becher." Und als der Student sich weigerte, ihn anzunehmen, drückte 
Luther den Becher mit seiner kräftigen Hand zusammen und sprach: 
„Da, nimm ihn, trag ihn zum Goldschmid, und was du dafür 
lösest, das behalt." ' , 
109. Kranich und Wolf. 
Äa der Wolf einmal ein Schaf gierig fraß, blieb ihm ein 
Bein im Halse überzwerch stecken, daran er große Noth und Angst 
hatte, und er erbot sich, großen Lohn und Geschenke zu geben, wer 
ihm hülfe. _ Da kam der Kranich und stieß seinen langen Kragen 
dem Wolf in den Rachen und zog das Bein heraus. Da er aber 
den verheißenen Lohn forderte, sprach der Wolf: „Willst du noch 
Lohn haben? Danke Gott, daß ich dir den Hals nicht abgebissen 
habe; du solltest mir schenken, daß du lebendig aus meinem Rachen 
gekommen bist."
	        
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