71
Sonnenhitze einen Wedel von grünen Reisern und weht ihm damit
ein kühles Lüftlein an.
Eine arme Witwe, deren Kinder selber in theurer Zeit das Brot
vor den Thüren suchten, hatte eine Henne und nährte sie mit den
Brocken,, welche ihr und ihren Kindern übrig blieben. Aber nicht
wenige von den Eiern, welche ihr das Huhn legte, kochte sie für
einen kranken und verlassenen Menschen in ihrer Nachbarschaft und
brachte sie ihm bald abends und bald morgens auf einem kleinen
Porzellanteller und legte Petersilienkraut herum, dap sie appetitlich
aussahen, als wären es Ostereier.
Ein frommer Mann hat gesagt: Hilf und gib gern, wenn du
hast, und dünke dich darum nicht mehr; und wenn du nicht hast,
so habe den Trunk kaltes Wassers zur Hand, und dünke dich darum
nicht weniger.
108. vr. Luthers Wohlthätigkeit.
Ein Mann, der um des Glaubens willen vertrieben war, sprach
vr. Luther einst um eine Gabe an. Luther hatte selber nur einen
Thaler in seiner Kasse, den er lange aufgespart hatte. Solche Geld¬
stücke wurden damals Ioachimsthaler genannt nach der Stadt Ioa-
chimsthal am Erzgebirge, wo sie geprägt wurden; davon heißen sie
heutzutage Thaler. Als Luther nun angesprochen ward, bedachte er
sich kurz, griff fröhlich nach dem Thaler mit den Worten: „Jochen,
heraus, der Herr Christus ist da," und gab ihn dem armen Manne.
Einmal kam zum vr. Luther ein armer Student, der nach
Hause reisen wollte und doch kein Reisegeld hatte. Er bat Luther
um eine Gabe; der aber hatte diesmal selber gar kein Geld und
wurde sehr betrübt, daß er nichts zu geben hatte? Wie er so traurig
in der Stube umhersah, erblickte er einen schönen silbernen Becher,
den er von seinem Kurfürsten zum Geschenk erhalten hatte. Da
lief er mit fröhlichem Blick hinzu, ergriff das Kleinod und reichte
es dem Studenten, indem er sprach: „Ich brauche keinen silbernen
Becher." Und als der Student sich weigerte, ihn anzunehmen, drückte
Luther den Becher mit seiner kräftigen Hand zusammen und sprach:
„Da, nimm ihn, trag ihn zum Goldschmid, und was du dafür
lösest, das behalt." ' ,
109. Kranich und Wolf.
Äa der Wolf einmal ein Schaf gierig fraß, blieb ihm ein
Bein im Halse überzwerch stecken, daran er große Noth und Angst
hatte, und er erbot sich, großen Lohn und Geschenke zu geben, wer
ihm hülfe. _ Da kam der Kranich und stieß seinen langen Kragen
dem Wolf in den Rachen und zog das Bein heraus. Da er aber
den verheißenen Lohn forderte, sprach der Wolf: „Willst du noch
Lohn haben? Danke Gott, daß ich dir den Hals nicht abgebissen
habe; du solltest mir schenken, daß du lebendig aus meinem Rachen
gekommen bist."