Full text: [2 (Mittlere Lehrstufe)] (2 (Mittlere Lehrstufe))

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XI. Ode. 
243. Der Mrchersee. (1750.) 
1. Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfin¬ 
dung Pracht, 
Auf die Fluren verstreut, schöner ein 
froh Gesicht, 
Das den großen Gedanken 
Deiner Schöpfung noch einmal 
denkt. 
Und wir Jünglinge sangen 
Und empfanden wie Hagedorn. 
7. Jetzo nahm uns die Au' in die be¬ 
schattenden 
Kühlen Arme des Walds, welcher die' 
Insel krönt; 
Da, da kämest du, Freude! 
Volles Maßes auf uns herab! 
2. Von des schimmernden Sees Trauben¬ 
gestaden her, 
Oder, flohest du schon wieder zum 
Himmel auf, 
Komm in rötendem Strahle 
Auf dem Flügel der Abendluft; 
8. Göttin Freude, du selbst! dich, wir 
empfanden dich! 
Ja, du wärest es selbst, Schwester der 
Menschlichkeit, 
Deiner Unschuld Gespielin, 
Die sich über uns ganz ergoß! 
3. Komm und lehre mein Lied jugendlich 
heiter sein, 
Süße Freude, wie du! gleich dem be¬ 
seelteren 
Schnellen Jauchzen des Jünglings, 
Sanft, der fühlenden Fanny 
gleich. 
4. Schon lag hinter uns weit U t o *), an 
dessen Fuß 
Zürch in ruhigem Thal freie Bewohner 
nährt; 
Schon war manches Gebirge, 
Voll von Reben, vorbeigefloh'n. 
5. Jetzt entwölkte sich fern silberner Alpen 
Höh', 
Und der Jünglinge Herz schlug schon 
empfindender, 
Schon verriet es beredter 
Sich der schönen Begleiterin. 
6. „Hallers Doris" die sang, selber 
des Liedes wert, 
Hirzels Daphne**), den Kleist 
innig wie Gleimen liebt; 
9. Süß ist, fröhlicher Lenz, deiner Be- 
geistrung Hauch, 
Wenn die Flur dich gebiert, wenn sich 
dein Odem sanft 
In der Jünglinge Herzen 
Und die Herzen der Mädchen gießt. 
10. Lieblich winket der Wein, wenn er Em¬ 
pfindungen, 
Beßre, sanftere Lust, wenn er Gedanken 
winkt, 
Im sokratischen Becher, 
Von der tauenden Ros'umkränzt; 
11. Wenn er dringt bis ins Herz und zu 
Entschließungen, 
Die der Säufer verkennt, jeden Ge¬ 
danken weckt, 
Wenn er lehret verachten, 
Was nicht würdig des Weisen ist. 
12. Reizvoll klinget des Ruhms lockender 
Silberton 
In das schlagende Herz, und die Un¬ 
sterblichkeit 
Ist ein großer Gedanke, 
Ist des Schweißes der Edeln wert! 
*) In Zürich der ütli- oder auch Güntliberg genannt. Die Stadt liegt 
eigentlich nicht am Fuße desselben; vom See aus aber scheint es so. 
**) Daphne, Hirzels Gattin (Johanna Marie Ziegler, gest. 1790), sang 
„Hallers Doris", d. i. Hallers Gedicht auf seine von ihm unter dem Namen 
Doris besungene Gattin (Marianne Wiest, gest. 1737).
	        
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