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Zeit der Reife: Epische Dichtung.
6. Joseph »irtor Scheffel <1826—1886».
Gesammelte Werke. Stuttgart o. I. 1. und 2. Bd.
Jus dem Roman „CKKehard". 1856.
Aus dem XIV. Kapitel: Die Hunnenschlacht. (Gekürzt.)
& Es war die siebente Stunde des Morgens, da hielten sie im Hof
von Hohentwiel den Gottesdienst vor dem Auszug. Unter der Linde war
der Altar aufgeschlagen; die geflüchteten Heiligtümer standen drauf zum
Trost der Gläubigen. Der Hof erfüllte sich mit Gewaffneten, Mann an
Manll standen die Rotten der Streiter, wie Simon Bardo sie abgeteilt,
io Wie dumpf Gewitterrollen tönte der Gesang der Mönche zum Eingang.
Der Abt der Reichenau, das schwarze Pallium mit weißem Kreuz über¬
geworfen, zelebrierte das Hochamt.
Hernach trat Ekkehard auf die Stufen des Altars; bewegt gleitete
sein Auge über die Häupter der Versammelten, dann las er das Evan-
i5 gelium vom Leiden und Tod des Erlösers. Mählich ward seine Stimme
klar und hell; er küßte das Buch und gab's dem Diakon, daß er's zurücklege
auf das seidene Kissen; sein Blick flog gen Himmel — dann hub er die
Predigt an.
Lautlos horchte die Menge.
so „Schier tausend Jahre sind vorüber," rief er, „seit der Sohn Gottes
sein Haupt am Kreuzesstamm neigte und sprach: Es ist vollbracht! Aber
wir haben der Erlösung keine Stätte bereitet in unsern Gemütern; in
Sünden sind wir gewandelt, und die Ärgernisse, die wir gaben in unserer
Herzenshärtigkeit, haben gen Himmel geschrieen.
25 Darum ist eine Zeit der Trübsal emporgewachsen; blanke Schwerter
blitzen wider uns; heidnische Ungeheuer sind in christliches Land ein¬
gefallen.
Aber statt zürnend zu fragen: Wie groß ist des Herren Langmut,
daß er solchen Scheusalen die liebreizende Heimaterde preisgibt? — klopfe
30 ein jeglicher an die Brust und spreche: Um unserer Verderbnis willen sind
sie gesendet. Und wollet ihr von ihnen erlöset sein, so gedenket an des
Heilands tapferen Tod. Fasset den Griff eurer Schwerter, so wie er einst
das Kreuz faßte und hinaustrug zur Schädelstätte, schauet auf und suchet
auch ihr euer Golgatha!"
35 Er deutete nach den Ufern des Sees hinüber. Dann strömte seine
Rede in Worten des Trosts und der Verheißung, stark wie der Schrei des
Löwen im Gebirge:
„Die Zeiten erfüllen sich, von denen geschrieben steht: Und wenn
die tausend Jahre zu Ende gehen, wird Satan aus seinem Kerker los-
4o gelassen werden und ausgehen, zu verführen die Völker in den äußersten
4) Karfreitag Von da bis Ostern ersetzen Holzklappern das Glockengeläute (S. 131,40).