Full text: Deutsche Dichtung im Mittelalter (Abt. 1)

207 
4. In diesem Zeitraume tritt zuerst das Drama in der Literatur 
auf. Seine Anfänge sind in der kirchlichen Liturgie zu suchen. Aus einer 
einzelnen Stelle in der Matutine des Ostergesanges, die das Gespräch des 
Engels mit den Frauen enthielt, entwickelten sich allmählich Darstellungen 
der ganzen Leidensgeschichte Christi in Gesprächform. Bald wurden solche 
Darstellungen, geistliche Spiele (oder Misterien) genannt, auch an den 
übrigen Festtagen aufgeführt. Mit der Zeit wurden diese Spiele aus der Kirche 
auf den Markt und ins öffentliche Leben übertragen, wobei denn zum Er¬ 
götzen des schaulustigen Volkes allerlei Possen und Mummereien hinzuge¬ 
fügt wurden. Nur wenige dieser Stücke sind uns bekannt geworden, unter 
andern das Innsbrucker Passionsspiel und das Spiel von den 
klugen und törichten Jungfrauen, das 1321 von Predigermönchen 
zu Eisenach vor dem Landgrafen Friedrich dem Freidigen aufgeführt wurde 
und ihn so mächtig ergriff, daß er vom Schlage gerührt den Rest seines 
Lebens hinfällig verbrachtes. — Neben den geistlichen Spielen entwickelten 
sich, wohl nicht früher als im Laufe des 15. Jahrhunderts, die sogenannten 
Fastnachtsspiele, die von jungen Leuten aus dem Bürgerstande in 
Privathäusern aufgeführt wurden; es sind Szenen voller Schwänke und 
Possen. Solche Fastnachtsspiele dichteten unter anderen die beiden Meister¬ 
singer Hans Rosenölüt und Hans Folz. 
In derselben Weise, wie die Poesie in diesem Zeitraume sank, hob sich die Prosa 
unter der Pflege des Bürgerstandes überraschend schnell. Wir heben hervor: 
l- historische Prosaschriften, nämlich Stadt- und Landchroniken, darunter: die 
Straßburger Chronik von Fritsche Closener (fl 1384) (vgl. S. 16), die Elsassische Chronik 
von Jakob Twinger von Königshofen (fl 1420) (vgl. S. 17), die Limburger Chronik und 
die Schweizerchroniken von Jnstinger, Schilling und Etterlin; 
2. mystische Prosaschriften von Joh. Tanker (fl 1361 in Straßburg; Haupt¬ 
werk: Nachfolge des armen Lebens Christi) (vgl. S. 16), dem Schüler des großen 1327 
verstorbenen Mystikers Meister Eckhart, und Heinrich Sense (8nso) (geb. 1295 in 
llberlingen bei Konstanz, fl 1366 zu Ulm; Hauptwerk: Büchlein von der ewigen Weisheit); 
3. die Predigten des Johann Geiler von Kaisersberg (geb. 1445 zu Schaff¬ 
hausen, Domprediger in Straßburg, fl 1510; besonders berühmt seine Predigten über 
Seb. Brants Narrenschiff) (vgl. S. 18). 
4. die älteren Volksbücher, vor allem den Enlenspiegel (1483). 
^ ... Nachklang dieser Ausführungen haben wir u. a. in den Oberammerqauer 
Passtonssprelen zu erkennen.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.