Full text: Lesebuch für höhere Bildungsanstalten (4)

Gl 5 
von Allem trägt ein Bingen gegenüber aus dem höchsten Punkte gelegener Thurm 
davon, die Rossel genannt, von welchem aus sich ein weites Panorama bis zu den 
Vogesen und Soonwatde aufrollt, sowie näher an Rüoesheim. ein offener, von 
Säulen getragener Tempel den ich schon von Bingen aus durch den Wald schimmern 
gesehen hatte. Geblendet von der mich rings umgebenden Pracht der Natur, stand 
ich lange im stummen Entzücken aus diesen Punkten, nicht nur den schönsten auf dem 
Niederwalds, sondern vielleicht in der ganzen Gegend. Tief unten liegt im Vorgrunde 
das freundliche Nüdesheim mit seinen alten Burgen, seitwärts über dem Strome das 
dunkle Bingen, weiterhin die Rochuskapelle im Sonnenstrahls, ihr gegenüber, dies¬ 
seits, der Johannisberg, und nun der ganze Rheingau mit allen seinen Städten 
und Weinbergen und Gärten und Dörfern, mit allen Krümmungen des prächtig 
hinwogenden Rheines und allen seinen vielen, gartenähnlichen Inseln. Der Oden¬ 
wald, die Vogesen, der Donnersberg begrenzen in blauer Ferne die weite Aussicht, 
wie leicht am Horizonte hinschwebende Wolken. Johanna Schopenhauer. 
6. Geschichtsbilde». 
94. Charakter der alten Welt. 
Was aus derZusammennehmung aller einzelnen Thatsachen eines Zeitraumes 
als letztes und höchstes Ergebniß hervorgeht, macht seinen Charakter aus; denn 
hierin besteht eben seine eigenthümliche Gestalt, wodurch er sich vor allen anderen 
unterscheidet und als besonders, für sich bestehendes Ganzes darstellt'. 
Als Hauptzug der ersten Periode fällt ihre Dunkelheit auf. Die beiden 
ersten Jahrtausende sind völlig öde. Einige wenige Sagen, jede weit von der 
andern getrennt, schweben uns vor, und Entfernung und Finsterniß hindern das 
Erkennen, ob es wahre oder Traumgestalten seien. Auch im dritten Jahrtausende 
und bis zum Ende der Periode währt die Dunkelheit fort, nur ine und da von 
-weiselhaftem Dämmerlichte unterbrochen, und langsam, in des 4. Jahrtausends 
erster Hälfte zum anbrechenden Tage übergehend. Zwar mehren sich hier die 
Erscheinungen, aber ihr Charakter bleibt das Schwankende und Wunderbare, ähn¬ 
lich den Bildern, die uns gern bei früher Morgendämmerung träumend oder 
wachend vor Phantasie und Auge vorüberziehen. Fast Alles, was noch von Völker¬ 
geschichten dieses langen Zeitraumes übrig bleibt, ist Sage und Mythe, oder es 
sind wenigstens die eigentlich historischen Nachrichten mit jenen verwebt, und durch 
bilderreichen Vortrag, durch symbolische Einkleidung großenteils unverständlich 
geworden. Gleichwohl geht aus dieser Verhüllung Einiges erkennbar hervor, und 
es stellt uns dieses die Völker und das ganze Menschengeschlecht in dem Zustande 
der Kindheit oder des unmündigen Alters dar. Seine Entstehung, seine allmäh¬ 
liche Ausbreitung über die Erde liegen, wiewohl in schwindelnder Ferne, vor uns, 
und Alles bezeichnet den neuen Ankömmling. Schon erblicken wir deutlich die 
Anlagen zu Allem, waö Gutes und Böses im Menschen ist; aber die Entwickelung 
derselben ist noch unvollendet. Gesund und ungeschwächt an Körper und Seele, 
erwacht der Mensch zum Gefühle seiner Kraft, uub äußert sich jugendlich rasch 
und unbefangen in mannigfaltiger Sphäre. Noch ist er arm an Erfahrungen, 
noch fast ganz Natur, nicht sehr gebildet, noch verbilde!, und größtentheils in der 
Mitte zwischen Verwilderung und Corruption. Dennoch hat seine Erziehung 
bereits begonnen; natürliche Bedrängnisse und selbstgeschaffene Leiden haben ihn 
zum Nachdenken gebracht, und er hat seine erblichen Krankheiten, die ewigen
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.