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Quellen seiner Noth, erkannt — Selbstsucht und Sinnlichkeit. Auch hat er schon
nach Hilfsmitteln dagegen gerungen; er hat der feindseligen Vereinzelung und der
gesetzlosen Freiheit entsagt, ist Bürger geworden und ha?sein Gemüth auszurichten
gesucht durch den Blick auf die übersinnliche Welt. Aber neue Leiden hat er sich
durch Beides bereitet: er ist abwechselnd der Anarchie und der Despotie Opfer
geworden, und hat seine heiligsten Ahnungen gegen blinden Wahn vertauscht.
Priester haben seinen aufstrebenden Verstand unterdrückt, und Fürsten haben Völker
wie Heerden behandelt. Schon sind Völkerräuber, Eroberer, Gründer von Welt¬
reichen aufgestanden, und die Verkehrtheit der Menschen hat ihnen Weihrauch ge¬
streut. Nur ein kleines Volk — die Juden — bewahrt kümmerlich das Kleinod
der reineren Gottesverehrung, und ein anderes — die Phönicier — zieht die
Friedenskünste dem Ruhme des Krieges vor. Auch sind, besonders im Abendlande,
verschiedene — wiewohl unbehilfliche — Versuche sichtbar, eine freie, rechtliche
Verfassung zu erringen. Hierin, und sonst noch vielfältig zeigt sich schon die
klimatische Einwirkung, die den Morgenländer träge und ungeduldig, den Abend¬
länder rege und selbstständig macht. In dem warmen gesegneten Orient ist der
Mensch zum Genusse und zur Ruhe geneigt; Muse führt ihn frühzeitig zur Halb¬
kultur, Künste und Wissenschaften verschönern sein Dasein: aber er entschlummert
aus der Mitte des Weges, oder geht zur Weichheit und Ueppigkeit über, indeß im
kälteren Abendlande die Noth die Kräfte weckt und spornt, und das Erkennen der
eigenen Kraft dem Charakter Festigkeit und Würde ertheilt. Zwar viele Stämme
sangen hier an zu verwildern. Doch bleiben sie ungeschwächt und des Guten
empfänglich. Auch betreten mehrere mit Glück die Bahn einer reineren Kultur,
und im auserwählten Griechenland und in Italien wird wenigstens der Boden
bereitet, aus welchem später, aus fremdem Samen, die schönste Blüthe der Auf¬
klärung und Civilisation hervorsprossen soll. Kart v. Kottecti.
95. Ueber den Untergang der Freiheit der alten Völker.
Als Augustus Cäsar die Welt übernahm, war die Blüthe des griechischen
Jugendalters, dessen Früchte in Vortrag und Kunst wir als unübertreffliche Muster
mit Recht verehren, längst abgestreift; vergessen die antike Hoheit des wunderbaren
Morgenlandes; erblichen und erstorben die Heldenkraft der ersten freien Völker.
Nichts desto weniger, welche Welt! Von der scotischen Mauer bis an und über
den Euphrat, von dem Sande hinter Chrene bis an die Sümpfe Westphalens; —
der Sitz in der Mitte der cultivirtesten Völker; unter dem gemäßigten Himmels¬
striche, überall die lachendste Fruchtbarkeit, das Meer von England bis an die
Küste von Kolchis, die schönen Länder alle im vollkommensten Baue, von den präch¬
tigsten Städten geziert, überall Verfeinerung, Luxus, bei allen Ueberbleibseln der
frühern großen Zeit, und dabei Geist, Gelehrsamkeit, alle Stufen der Bildung in
frohester Entwickelung. Diese Welt gehorchte dem Augustus und gern.
Nichts ward mehr vermieden, als der Anschein von Herrschaft. Sie ward
geübt, ja nicht genannt. Man durfte nicht wissen, daß Rom einen Herrn habe.
Und wie viel erfand er, um den Unterworfenen alle müßige Stunden mit Genüssen
zu füllen, und alle große Talente mit Literatur und Verwaltungen zu beschäftigen!
Wie wußte er die Werkzeuge der Macht, seine Legionen, zugleich zu ehren, und
fern und in Ordnung zu halten; Wohlstand aber und Friede so zu begründen,
daß man weder Muße noch Lust habe, anderer Zeiten zu gedenken. Indeß be¬
günstigte er, daß Livius die Geschichte derselben freimüthig schrieb, aus daß Nie¬
mand glaube, er scheue sie, und sie haben sich geändert. So das Kaiserthum den
Nationen einzuzaubern war seine fünfzigjährige Arbeit. Ein Heer, bei weitem