Sechster Abschnitt.
Ueber Kunst und allgemeine Aesthetik
88. Lehrbrief der Kunst.
,J)ie Kunst ist lang, das Leben kurz, das Urtheil schwierig, die Gelegenheit flüchtig. Han¬
deln ist leicht, Denken schwer, nach dem Gedachten handeln unbequem. Aller Anfang ist
heiter, die Schwelle ist der Platz der Erwartung. Der Knabe staunt, der Eindruck bestimmt
ihn, er lernt spielend, der Ernst überrascht ihn. Die Nachahmung ist nies angeboren, das
Nachzuahmende wird nicht leicht erkannt. Selten wird das Treffliche gefunden, seltener
geschätzt. Die Höhe reizt uns, nicht die Stufen; den Gipfel im Auge, wandeln wir gerne
auf der Ebene. Nur ein Theil der Kunst kann gelehrt norden, der Künstler braucht sie
ganz. Wer sie halb kennt, ist immer irre und redet viel; wer sie ganz besitzt, mag nur
thun, und redet selten oder spät. Jene haben keine Geheimnisse und keine Kraft, ihre
Lehre ist, wie gebackenes Brod, schniackhaft und sättigend, für Einen Tag; aber Mehl kann
man nicht säen, und die Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden. Die Worte sind gut,
sie sind aber nicht das Beste. Das Beste wird nicht deutlich durch Worte. Der Geist, aus
dem wir handeln, ist das Höchste. Die Handlung wird nur vom Geiste begriffen und
wieder dargestellt. Niemand weiß, was er thut, wenn er recht handelt; aber des Unrechten
sind wir uns immer bewußt. Wer bloß mit Zeichen wirkt, ist ein Pedant, ein Heuchler,
oder ein Pfuscher. Es sind ihrer viel, und es wird ihnen wohl zusammen. Ihr Geschwätz
hält den Schüler zurück, und ihre beharrliche Mittelmäßigkeit ängstigt die Besten. Des
echten Künstlers Lehre schließt den Sinn auf; denn wo die Worte fehlen, spricht die That.
Der echte Schüler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln, und nähert sich
dem Meister. Goethe.
89. Die Kunst iu Beziehung zum öffentlichen Leben.
Die Kunst entspringt nur aus der lebhaften Bewegung der innersten Gemüths- und
Geisteskräfte, die wir Begeisterung nennen. Alles, was von schweren oder kleinen Anfängen
zu großer Macht und Höhe herangewachsen, ist durch Begeisterung groß geworden. So
Reiche und Staaten, Künste und Wissenschaften. Aber nicht die Kraft des Einzelnen richtet
es aus, nur der Geist, der sich im Ganzen verbreitet. Denn die Kunst insbesondere ist,
wie die zarteren Pflanzen von Luft und Witterung, so von öffentlicher Stimmung abhängig;
sie bedarf eines allgemeinen Enthusiasinus für Erhabenheit und Schönheit, wie jener, der
in dem Medicäischen Zeitalter gleich einem warmen Frühlingshauch alle die großen Geister
zumal und auf der Stelle hervorrief; einer Verfassung, wie sie uns Perikles im Lob Athens
schildert, und die uns die milde Herrschaft eines väterlichen Regenten sicherer und dauernder
als Volksregierung gewährt; wo jede Kraft freiwillig sich regt, jedes Talent mit Lust sich
zeigt, weil jedes nur nach seiner Würdigkeit geschätzt wird; wo Unthätigkeit Schande ist,
Gemeinheit nicht Lob bringt, sondern nach einem hochgesteckten, außerordentlichen Ziele gestrebt
wird. Nur dann, wenn das öffentliche Leben durch die nämlichen Kräfte in Bewegung gesetzt