Full text: Lehrbuch zur Kenntniß der verschiedenen Gattungen der Poesie und Prosa für das weibliche Geschlecht, besonders für höhere Töchterschulen

binden, das ihm keine Ehre macht, wenn er es gesagt haben sollte. So selten 
sollte es um einfältige Christen stehen, daß man sie bei mir, hier in der 
Hütte, aufsuchen müßte? Ein Bischof, ein Gesalbter des Herrn, sollte so 
gottlose, trostlose Reden führen? Ein armes Bettelweib bin ich, das so, wie 
Andere an Tanz, ihre Lust am Betteln hat. Ich ließe es gewiß, wenn es 
mir nicht Spaß machte. Und Hort, Küstermann, ich will weder den Herrn 
Dechanten, noch den Herrn Bischof sehen; ich will nichts verhandeln und 
thun, was mir noch in meinen alten Tagen meinen oft zerschlagenen Kopf 
verrücken könnte. Ja, ich habe viel erlebt, und denke und meine, über vieles 
hinweg zu sein. Aber man lernt die Welt und sich niemals zu Ende kennen; 
denn der Mensch bleibt dumm und voll bösen Trachtens, wenn er auch Me- 
thusalem's Jahre erreichen sollte. Das fehlte noch, daß fie mir die Schüssel 
des geistlichen Hochmuthes so nahe rückten, daß der betäubende kräftige Ge¬ 
ruch mir in die Nase stiege, und ich mich doch hinsetzte, um davon zu naschen 
und zu speisen. Jeder Mensch muß sich das aus dem Wege stellen, was 
seinen Glauben irrt. Vermögen, Ansehen, Ehre, Aussehen machen, das alles 
könnte mich weit, weit weg führen. Für mich ist die Armuth, der Hohn der 
Knaben, der Uebermuth der Großen, der Ekel, mit dem die Reichen auf mich 
herabsehen: diese Demüthigung ist mir werth; denn mein Herz war böse 
und eitel, und erst, da mir der Herr so gnädig war, mich so zu führen wie 
jetzt, bin ich glücklich geworden." 
Der Küster ward still und dachte über die wunderbare Gemüthsart der 
Alten. Er merkte, daß alles, was ihm ausgetragen war, bei ihrem festen 
Sinne nicht durchzusetzen sei. Er wollte ihr deutlich machen, daß sie ent¬ 
weder als Vorsteherin einer Schwesterschaft mehr Gelegenheit finde, wohl¬ 
thätig zu sein, oder, selbst Haus, Geld und Eigenthum besitzend, nun mit 
weit mehr Sicherheit ihrem schönen Gefühle folgen könne. „Im Großen," 
beschloß er, „könnt Ihr, gute Frau, dann das thun und ausüben, was Euch 
jetzt schon glücklich macht. Dieses Glück wird Euch aber doch durch eignen 
Mangel, durch die Hartherzigkeit der Menschen und durch so manches Hinder¬ 
niß verkümmert, welches Euch nachher nicht mehr quälen würde." 
„Freund," sagte sie noch immer verdrießlich, „laßt ab von mir; denn 
Ihr werdet mich doch nicht überreden. Daß ich ganz arm, und bettelarm 
bin, das ist meine Freude und meine Andacht. Mein Heiland hatte nicht 
einmal, wo er sein Haupt hinlegte. Wenn Jh^meinen Sinn nicht versteht, 
so laßt mir wenigstens Ruhe. Fast alle Menschen glauben, sie fingen erst 
an zu leben, wenn sie Eigenthum erwerben. Ich habe alles verloren und 
vergeudet, und seitdem ist mir erst wohl. Der heilige Vater Franciscus und 
mancher Andere, auch Sanct Rochus, Alexius, dachten eben so. Es ist eine 
Seligkeit, schon hier aus Erden ganz arm zu sein und nichts zu besitzen. 
Nun weine ich nicht mehr über die Bettler, Hilflosen und Kranken; nun 
gehöre ich selbst zu dieser Gilde, und kann erst glauben, daß alle meine 
Brüder sind. Wie andere Menschen sich nach Freuden, Musik und Tanz und 
großen Festen sehnen, so ging meine Sehnsucht auf diese Armuth hin. Jeder 
muß wissen, wie er in seinem Glauben treu sein und verbleiben kann."
	        
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