Full text: Lehrbuch zur Kenntniß der verschiedenen Gattungen der Poesie und Prosa für das weibliche Geschlecht, besonders für höhere Töchterschulen

Ich bat den Postmeister inständig, daß er mich bald fortschaffen und mir 
eine Stube allein geben sollte. „Kommen Sie," sagte er, „in meine Schlaf¬ 
kammer; sonst ist kein Winkel leer." — Ich ging hinein, beseufzte mein 
Schicksal, daß ich nichts zu essen bekommen und doch auch keine Pferde haben 
könnte. Hier saß ich also und nun traten 6 Offiziere unangemeldet in mein 
Zimmer. Ich stehe auf und bücke mich. „Lassen Sie sich nicht stören, Herr 
Professor!" fing der Erste an. „Dies hier ist der Rittmeister K**, ein 
großer Verehrer Ihrer Schriften, und ich bin der General S**. Wo ge¬ 
denken Sie hin?" — Nach Bonau, Herr General. Komme ich Ihnen 
etwa verdächtig vor? — „Nichts weniger! Sie mögen wohl oft in Bonau 
sein?" — Um Vergebung, wie hat Ihnen das bekannt werden können? — 
„Eben so, Herr Professor, wie mirs bekannt ist, daß Sie oft in ** sind, 
und oft Besuche von solchen Leuten haben, wie der Rittmeister K** ist." — 
Nun trat der Rittmeister näher auf mich zu mit einem freundlichen Gesichte, 
und sagte mir, daß er mich sehr lieb habe und mich gern läse. — „Herr 
Professor," fuhr der General fort, „ich bitte Sie, daß Sie an diesem Mittag 
mit mir speisen; alsdann will ich Sie ruhig nach Bonau reifen lassen." — 
Nun dachte ich, das wird eine schöne Mahlzeit werden! Aber was hilft's? 
Gehe mit, ehe man Gewalt gebraucht. Ich speiste also mit diesen Herren 
im Garten. Das Essen war sehr gut, und der Rittmeister und der General 
begegneten mir mit vieler Freundschaft; ich aber konnte nicht essen und nicht 
trinken, so sehr sie mir auch zuredeten. Immer dachte ich, ich würde die 
ganze Nacht hier residiren müssen, und diese Furcht gab mir, wie ich ver¬ 
muthe, ein so mürrisches Ansehen, daß sie sich wohl sehr über den menschen¬ 
feindlichen Professor wundern mochten; denn sie sahen mich immer Einer 
um den Andern aufmerksam an. Zu meinem Glücke blies in der Hälfte der 
Mahlzeit ein Postillon. „Halten Sie mir es zu Gnaden, Herr General," 
fing ich an, „der Postillon ruft mich." — Und sogleich stand ich auf, und 
zitterte heimlich vor der Arretirung. Aber nein, theuerste Freundin; der 
General ließ mich sehr gütig von sich, und ich muß es rühmen, daß ich an 
feiner Tafel kein unanständiges Wort gehört habe. Ich lief geschwind durch 
den Garten, sprang in den Wagen und sagte zum Postillon: „Fahrt zu! 
ich gebe Euch doppeltes Trinkgeld." — Alle Vorposten wollten mich auf¬ 
halten. „Wo kommen Sie her?" — Wo werde ich herkommen? Von der 
Tafel des Generals! — „Sind Sie der Herr Professor Gellert?" — Ja 
wohl! — „Nun, so fahren Sie ruhig! Wir haben Ordre, Sie nicht aufzu¬ 
halten." — Fahrt zu, Postillon! fahrt zu! rief ich aufs Neue, indem ich 
voll Dank meinen Hut gegen die guten Husaren abzog. Der Postillon fuhr, 
was er konnte, und hörte gar nicht mehr, die Vorposten mochten rufen, wie 
sie wollten. Ich kam also wie im Trünke nach Bonau. 
Hier fand ich die gnädige Frau krank, und zwar krank über den Schrecken, 
den ihr am 8ten Mai zwei Husaren von demselben Corps gemacht hatten. 
Einer hatte sie erschießen, der andere erstechen wollen, und sie selbst war von 
ihren Leuten, die von den Husaren durch Prügel waren verscheucht worden, 
verlassen, die Kammerjungfer ausgenommen. Ich erzählte dieser armen Dame
	        
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