Full text: [Teil 2 = Kl. 7] (Teil 2 = Kl. 7)

reich sollten verbrannt werden. An dem Mädchen aber wurden die 
Gaben der weisen Frauen sämtlich erfüllt; denn es war so schön, 
sittsam, freundlich und verständig, daß es jedermann, der es ansah, lieb¬ 
haben mußte. Es geschah, daß an dem Tage, an dem es gerade fünf¬ 
zehn Jahr alt ward, der König und die Königin nicht zu Haus waren 
und das Mädchen ganz allein im Schloß zurückblieb. Da ging es aller¬ 
orten herum, besah Stuben und Kammern, wie es Lust hatte, und kam 
endlich auch an einen alten Turm. Es stieg die enge Wendeltreppe 
hinauf und gelangte zu einer 
kleinen Tür. In dem Schloß 
steckte ein verrosteter Schlüssel, 
und als es umdrehte, sprang 
die Tür auf, und saß da in 
einem kleinen Stübchen eine 
alte Frau mit einer Spindel 
und spann emsig ihren Flachs. 
„Guten Tag, du altes Müt¬ 
terchen," sprach die Königs¬ 
tochter, „was machst du da?" 
„Ich spinne," sagte die Alte 
und nickte mit dem Kopfe. 
„Was ist das für ein Ding, 
das so lustig hernmspringt?" 
sprach das Mädchen, nahm 
die Spindel und wollte auch 
spinnen. Kaum hatte sie aber 
die Spindel angerührt, so ging 
der Zauberspruch in Erfüllung, 
und sie stach sich daniit in Zcicbnung von Ludwig Richter, 
den Finger. 
In dem Augenblick aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie auf 
das Bett nieder, das da stand, und lag in einem tiefen Schlaf. Und 
dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloß: der König und 
die Königin, die eben heimgekommen und in den Saal getreten waren, 
sanken nieder und schliefen ein und der ganze Hofstaat mit ihnen. Da 
schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hofe, die Tauben 
auf dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das auf 
dem Herde flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte 
auf zu brutzeln, und der Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas
	        
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