Full text: Neuntes Schuljahr (B)

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lade ich heut zu mir, willst du noch einmal der Führer meiner Reise 
sein?" 
,,Ich will, Herr," antwortete Ingram aufstehend mit leuchtendem 
Blick. 
,,So nimm Abschied von Weib und Kind; denn du sollst für den 
Herrn unter Schilde gehen." 
Unten im Hofe wogte das Volk wie Wellen des Meeres. Da der 
Erzbischof heraustrat, fiel alles auf die Knie, und die Arme aufhebend, 
ging er. langsam hindurch zum Schiffe. Dort wandte er sich noch ein¬ 
mal, grüßte und segnete und lachte freundlich den Kindern au, welche 
von den weinenden Müttern aufgehoben wurden, damit sie den Mann 
Gottes schauten.-— Die Schiffer lösten die Seile, und rheinabwärts 
schwebte das Schiff; am Ufer lag das Volk auf den Knien und sah 
dem Fahrzeug nach, bis es hinter einer Biegung des Stromes verschwand. 
4. Es war eine sonnige Fahrt, gleich einer langen Festreise. Wo 
eine Kapelle stand auf den Höhen oder ein Kirchlein unten am Strom, 
da drängten sich die Leute und läuteten die Glocken, wenn das Schiff 
kam und abfuhr. Jeden Abend legten die Reisenden an, wo fromme 
Christen wohnten. Herr Winfried stieg an das Land, begrüßte die 
Gemeinden und ruhte unter dem Dach derer, die ihm vertraut waren, 
während Ingram am Maste unter dem Kreuzbanner lag und die Schiffs¬ 
wache hielt. So fuhren die Reisenden den Rhein abwärts bis dahin, 
wo er zum See wird, sie legten vor Utrecht an und nahmen den 
Bischof von Friesland, welchen Winfried eingesetzt hatte, zu sich 
in das Schiff. Dann fuhren sie ostwärts bis zur Grenze der heidnischen 
Friesen. Dorthin hatte Herr Winfried im voraus das neubekehrte Volk 
geladen, damit er den Getauften die Hand auflege und sie, im Glauben 
befestige; seine Boten waren durch das ganze Friesenland gegangen 
und hatten seine Ankunft verkündet. An der Mündung des kleinen 
Flusses Borne, welcher die christlichen und heidnischen Friesen trennt, 
landeten die Fahrenden kurz vor dem bestimmten Tage in einer 
Bucht, wo die Flut einen Wall von zugetriebnen Stämmen aufgehäuft 
hatte. Der Erzbischof stieg an das Land, wählte die Lagerstelle 
und umschritt weihend den Raum; Ingram ließ die Zelte aufschlagen, 
den Graben schütten und das angeschwemmte Holz zum Walle schichten. 
5. Als er bei dem Walle stand, die Richtung maß und selbst die 
Pfähle schlug, ging Herr Winfried bei ihm vorüber und sprach: „Du 
mühest dich emsig, uns mit Holz und Erde zu umschanzen, hast du 
auch darum gesorgt, Einen über uns nach seinem Willen zu fragen? 
Denn er zieht die Schildburgen und verwirft sie ganz nach seinem 
Gefallen." 
Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. Teil III8. 1912. 
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