Full text: Lehrbuch der Geographie für die mittleren und oberen Klassen höherer Bildungsanstalten sowie zum Selbststudium

374 Buch VIII. Europa. Cap. VI. Die Skand. Länder. I. Die Halbinsel. 
ein: Blutrache, der früher häufig geübte Selbstmord, um dem unrühm¬ 
lichen Tode auf dem Bette zu entgehen, das Aussetzen der Kinder hörten 
auf; die Küsten Europas waren gesichert. Anfänglich hatte das Erz- 
bisthum Bremen die Obhut über den Norden; im Jahre 1114 wurde 
in Lund ein eigenes Erzbisthum eingerichtet. Die schwedische Kirche 
erwarb sich großen Grundbesitz, und da bei Einführung der Reformation 
ihr derselbe belassen wurde, so gieng dieselbe ohne Widerstand von Sei¬ 
ten der Geistlichen vor sich, und noch jetzt hat deshalb die schwedische 
Geistlichkeit großen politischen Einfluß im Lande. 
Die alte Sprache des Volkes, das sog. Oldnorsk, lautlich mit 
plattdeutsch und gothisch auf derselben Stufe stehend, unterscheidet sich 
von den übrigen germanischen Sprachen durch die Bildung eines 
Passivums ohne Zusammensetzung und die Anfügung des Artikels am 
Wortende. Ausgezeichnet sind die noch aus jener Zeit erhaltenen Denk¬ 
mäler der Prosa und Poesie durch charaktervolle Kürze und Kraft des 
Ausdrucks. Später hat sich die Sprache in zwei Aste gesondert. Das 
Schwedische, welches sich die reinen Vocale des Altnordischen bewahrt 
hat und deshalb die wohlklingendste Sprache Europas ist, hat eine 
reiche poetische Literatur aus der neueren Zeit auszuweisen. In Nor¬ 
wegen ist das Dänische, der zweite Ast des Altnordischen, Schriftsprache; 
aber man nimmt jetzt mehr und mehr Wörter aus den Dialekten in 
dieselbe auf, so daß sich allmählich zwischen Dänischem und Norwegischem 
eine Trennung einstellen wird. 
Die Schweden wie die Norweger sind großgebaute, starke 
Leute von ächt germanischem Körperthpus, und auch in ihrem Geistes¬ 
und Gemüthsleben erinnert noch vieles an die altgermanische Zeit: Gottes¬ 
furcht, die oft in Schwärmerei ausartet (Läsare in Schweden, Hougianer 
in Norwegen), Redlichkeit, Treue gegen die Obrigkeit, Tapferkeit, Vater¬ 
landsliebe, Gastfreiheit, aber auch die Neigung zu starken Getränken. 
Aber im einzelnen zeigen sich bcmerkenswcrthe Unterschiede. Der Schwede, 
der auf eine ruhmvolle Vergangenheit seines Landes hinzuweisen hat, 
hascht jetzt, wo Schweden in die Reihe der Staaten zweiten Ranges 
zurückgetreten ist, häufig nach leeren Auszeichnungen, Rang, Titel und 
bergt., und besonders der zahlreiche schwedische Adel, für den das Land 
nach Verlust so vieler Provinzen zu enge geworden, lebt oft über seine 
Kräfte und sucht mit Mühe, einen gewissen äußern Schein zu wahren. 
Der Norweger dagegen, nach langer Abhängigkeit von Dänemark erst 
seit kurzem zur Freiheit erwacht, ist sich der gewaltigen Fortschritte, die 
sein so lange vernachlässigtes Vaterland in diesem Jahrhundert nach 
jeder Richtung hin gemacht hat, stolz bewußt und verachtet leicht die 
anderen Nationen neben sich. Die Volksbildung steht in beiden Ländern 
auf sehr hoher Stufe. Die Zahl der Kinder, welche keinen Unterricht 
genießen, ist verschwindend klein. Fast jedermann kann lesen. Daher 
ist in diesen Ländern die periodische Presse eine große Macht geworden 
und relativ mehr entwickelt, als in irgend einem Lande Europas. In 
Schweden allein erscheinen über 170 Zeitungen nnd Zeitschriften. Auch
	        
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