Full text: Von Goethe bis zur Gegenwart (Band 2, [Schülerband])

184 ßSßSlßglßSI Jakob und GdUbelm Grimm. 
gebliebenen größeren Lieder der Vorzeit konnten. ... Die Märchen 
also sind teils durch ihre äußere Verbreitung, teils durch ihr inneres 30 
Wesen dazu bestimmt, den reinen Gedanken einer kindlichen Welt¬ 
betrachtung zu fassen, sie nähren unmittelbar wie die Milch, mild 
und lieblich, oder der Honig, süß und sättigend, ohne irdische Schwere; 
dahingegen die Sagen schon zu einer stärkeren Speise dienen, eine 
einfachere, aber desto entschiedenere Farbe tragen und mehr Ernst und 
Nachdenken fordern. Über den Vorzug beider zu streiten, wäre un¬ 
geschickt; auch soll durch diese Darlegung ihrer Verschiedenheit weder 
ihr Gemeinschaftliches übersehen, noch geleugnet werden, daß sie in 
unendlichen Mischungen und Wendungen ineinandergreifen und sich 
mehr oder weniger ähnlich werden. Der Geschichte stellen sich beide, 40 
das Märchen und die Sage, gegenüber, insofern sie das sinnlich 
Natürliche und Begreifliche stets mit dem Unbegreiflichen mischen, 
welches jene, wie sie unserer Bildung angemessen scheint, nicht mehr 
in der Darstellung selbst verträgt, sondern es auf ihre eigene Weise 
in der Betrachtung des Ganzen neu hervorzusuchen und zu ehren 
weiß. Die Kinder glauben an die Wirklichkeit der Märchen, aber 
auch das Volk hat noch nicht ganz aufgehört, an seine Sagen zu 
glauben, und sein Verstand sondert nicht viel darin; sie werden ihm 
-aus den angegebenen Unterlagen genug bewiesen, d. h. das unleug¬ 
bare nahe und sichtliche Dasein der letzteren überwiegt noch den 50 
Zweifel über das damit verknüpfte Wunder. Diese Eingenossenschaft 
der Sage ist folglich gerade ihr rechtes Zeichen. Daher auch vou 
dem, was wirkliche Geschichte heißt (und einmal hinter einen gewissen 
Kreis der Gegenwart und des von jedem Geschlechte Durchlebten 
tritt), dem Volke eigentlich nichts zugebracht werden kann, als was 
sich ihm auf dem Wege der Sage vermittelt; einer in Zeit und Raum 
zu weit entrückten Begebenheit, der dieses Erfordernis abgeht, bleibt 
es fremd, oder läßt sie bald wieder fallen. 
Wie unverbrüchlich sehen wir es dagegen an seinen eingeerbten 
und hergebrachten Sagen haften, die ihm in rechter Ferne nachrücken 60 
und sich an alle seine vertrautesten Begriffe schließen! Niemals können 
sie ihm langweilig werden, weil sie ihm kein- eitles Spiel, das mau 
einmal wieder fahren läßt, sondern eine Notwendigkeit scheinen, die 
mit ins Haus gehört, sich vou selbst versteht und nicht anders, als 
mit einer gewissen, zu allen rechtschaffenen Dingen nötigen Andacht, 
bei dem rechten Anlasse, zur Sprache kommt. Jene stete Bewegung 
und dabei immerfortige Sicherheit der Volkssagen stellt sich, wenn 
wir es deutlich erwägen, als eine der trostreichsten und erquickendsten
	        
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