Full text: Prosa für die zweite und erste Klasse (Teil 3, [Schülerband])

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leicht die Gespenster der in dem alten Burgverließ Um¬ 
gekommenen noch umgingen, dazu gehörte doch mehr als 
ein gewöhnlicher Mut, und den besaß keiner von den 
Burgleuten. Deshalb schlich einer nach dem andern leise 
davon, so daß endlich der Ritter mit seinen beiden 
Töchtern allein an dem Brunnenschächte stand, aus _ dem 
leise das Winseln des Tieres heraufschallte. In diesem 
Augenblicke trat der Müller Velten herzu, der auf dem 
Schloßhofe nach dem Burgherrn gefragt und den man in 
den Garten gewiesen hatte. Die Fuchsfellmütze in der 
Hand, nahte er sich mit kriechender Unterwürfigkeit seinem 
Herrn; dieser aber rief ihm entgegen: „Hast Du Mut, 
Velten, so zeige es heute; laß Dich an einem Strick hier¬ 
in die Tiefe hinab und hole den Hnnd herauf. Bringst 
Du das Tier lebendig und gesund nach oben, so soll Dir 
der letzte Jahreszins geschenkt sein." 
„Gnädiger Herr", grinste der Müller, „der Jahres¬ 
zins nicht allein — zinsfrei für mein ganzes Leben be¬ 
komme ich die Mühle! Ihr denkt doch daran, was Ihr 
mir versprochen habt? Ich halte mein Wort, ich liefere 
ihn Euch ans Messer! Aber den Hund hole ich Euch 
doch herauf!" Und den in scheuer Entfernung stehenden 
Knechten rief er zu: „Holla, einen Strick her, damit ich 
mich daran hinablassen kann!" Eilfertig wurde nun ein 
starkes, langes Tau herbeigeschafft und an einem quer 
über das Loch gelegten Balken befestigt; und mit einer 
brennenden Laterne am Gürtel ließ sich der Müller, ge¬ 
wandt wie eine Katze, in die schaurige Tiefe hinab. Ohne 
Unfall kam er unten an und suchte mit dem Licht nach 
dem Hunde, der sich scheu in einen dunkeln Winkel verkrochen 
hatte. Es dauerte lange, ehe sich das Tier von dem un¬ 
bekannten Manne greifen ließ, und dabei hatte der Müller 
Zeit, sich in seiner Umgebung, soweit es das unsichere 
Licht der Laterne zuließ, umzuschauen. _ Endlich hatte er 
den Hund ergriffen, schnell eilte er mit ihm nach der 
Stelle, wo der Strick heruuterhing, ergriff ihn mit der 
einen Hand, während er mit der andern den Hund fest¬ 
hielt, und rief den oben stehenden Leuten zu, ihn herauf-
	        
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